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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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hinter sich zu. Keine Reaktion.
    »Vater? Ich komme dich besuchen.«
    Langsam dreht sich der alte Mann um. Die glänzende Bluse steht offen und spannt an den Oberarmen. Darunter ist ein schmuddeliges Unterhemd zu sehen. Schau ihn dir an, denkt Drik, hier steht dein Vater, in Damenbluse und fleckiger Hose. Schau. Die milchigen Augen unter den graublonden Haaren starren an Drik vorbei. Der alte Mann grabbelt in seinen Hosentaschen, sucht etwas –
    »Ich bin es, Drik, dein Sohn.«
    »Können Sie mein Hörgerät finden?«
    Drik sieht die Brille seines Vaters auf der Fensterbank liegen und reicht sie ihm. Hendrik setzt sie auf, seine Hände zittern leicht.
    »Setzen wir uns«, sagt Drik. Er drückt Hendrik in den Sessel und zieht für sich selbst einen Hocker unter dem Bett hervor. Der alte Mann hat den Blick jetzt andächtig auf Driks Gesicht gerichtet. Er sucht, denkt Drik, in diesem Kopf dort spürt er den verfallenden Gedächtnisschleifen nach, Bilder vom Audiome trieassistenten, vom Heimarzt, von sich selbst im Spiegel blitzen auf und verflüchtigen sich wieder, irgendetwas an meinem Aussehen kommt ihm bekannt vor, aber er kann es nicht greifen, und Worte zu finden dauert so lange, dass die Erinnerungsbilder schon wieder erloschen sind, bevor sich die Zunge bewegt.
    »Wo ist Suzanne?«, fragt der Alte plötzlich.
    Drik lächelt.
    »Ich bin jetzt an Suzans Stelle hier. Wollen wir einen Spaziergang machen?« Er sehnt sich nach frischer Luft. Und Hendrik ist immer gern und viel gelaufen. Also los.
    Es ist ein ziemliches Unterfangen: Schuhe, Mantel, der Spazierstock, die Benachrichtigung des Personals. Dann schieben sie sich durch die Eingangstür in den Park hinaus. Drik stützt seinen Vater, dessen Schritte erstaunlich flott sind und der hin und wieder den Kopf hebt, um zu den Bäumen aufzuschauen. Platz, Sauerstoff. Eine gute Entscheidung.
    Welchen Anteil erbliche Faktoren an der Entstehung der verschiedenen Demenzerkrankungen haben, weiß man noch nicht genau. Leida, Hendriks Zwillingsschwester, ist noch topfit und völlig klar im Kopf. Werde ich ungeschoren davonkommen?, fragt sich Drik. Suzan?
    »Wo meine Wanderschuhe geblieben sind, weiß ich nicht«, murmelt Hendrik. »Alles ist abhandengekommen.«
    »Du bist immer mit Mutter gewandert«, versucht Drik einen Vorstoß. »In England. Lange Strecken.«
    »Mit kleinen Kindern geht das nicht mehr. Das wirst du schon noch merken. Manchmal zieht man zum Wandern besser Stiefel an. Wenn es sumpfig ist und so.«
    Wer bin ich jetzt für ihn? Soll ich ihn ins Hier und Jetzt holen? Oder lieber ins Früher?
    »Als unser Sohn geboren wurde, unser Sohn Diederik, haben wir das Wandern aufgegeben. Oder zumindest verschoben.«
    »Nach Suzans Geburt seid ihr doch noch einmal wandern gewesen, oder nicht?«
    Hendrik bleibt stehen und wendet das Gesicht Drik zu.
    »Das war ein großer Fehler. Man sollte eine Mutter niemals von ihrem Neugeborenen trennen. Das kann nicht gutgehen, sage ich Ihnen.«
    Sie stehen an einem Teich, der Weg daneben führt durch trockenes Schilf, in dem das Rascheln von Vögeln zu hören ist. Oder von Ratten, denkt Drik. Er erkennt mich nicht, und doch bin ich ihm vertraut. Oder tragen die Schleier der Demenz dazu bei, dass man jedem zu vertrauen beginnt, der einen entschlossen beim Arm nimmt? Ich sollte ihn nicht noch weiter verwirren. Was ich jetzt tue, ist total falsch.
    »Inwiefern denn?«, fragt er. Sanft schiebt er Hendrik wieder an, sie spazieren weiter über den mit Tannennadeln bestreuten Weg, vom Teich weg, einen Hang hinauf. Schafft er das? Mit Leichtigkeit. Körperlich hat Hendrik noch Kraft.
    »Die Polizei überprüft alles, das weiß man doch. Es gibt Ermittlungen. Ich muss ja wohl nicht alles erklären!«
    Wenn ich erfahren will, was damals passiert ist, sollte ich Tante Leida fragen. Das hier hat keinen Zweck. Leida hat noch Zugriff auf ihre Erinnerungen und Gedanken. Drik weiß, dass auch das nichts nützen wird. Menschen stilisieren ihre Erinnerungen und verformen sie im Laufe der Zeit immer mehr. Was am Ende dabei herauskommt, hat mit dem, was wirklich war, nicht mehr viel zu tun. Vielleicht sollte er doch lieber den plötzlichen Gedächtniseruptionen Hendriks lauschen, denn dabei handelt es sich um Brocken ursprünglichen Materials, die wie bei einem Vulkanausbruch hervorgeschleudert werden.
    Sie stehen auf einer kleinen Anhöhe und blicken auf das Hauptgebäude des Altenheims. Aus den Fenstern fällt Licht, es ist ein bewölkter, dunkler

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