Die Betäubung: Roman (German Edition)
Eltern scheiden ließen, als du etwa fünf warst. Es könnte sein, dass du in der Zeit heftige Auseinandersetzungen zwischen ihnen miterleben musstest, die dir, als kleinem Kind, große Angst gemacht haben. Kein Wunder, dass du dich da nach reiner Harmonie sehnst. In der Realität können wir der Aggression nicht entgehen. Auch dein Anästhesist sticht Nadeln in seine Patienten.«
Was für eine blöde, pädagogisierende Bemerkung. Warum lasse ich ihn nicht in Ruhe über die Scheidung seiner Eltern nachdenken? Ich bin weder sein Erzieher noch sein Vater, und doch drängt er mich ein ums andere Mal in diese Rolle. Und ich lasse es geschehen, weil ich es immer zu spät erkenne. Seine Idealisiererei macht mich wahnsinnig. Er lässt nicht mit sich reden, er will diese Wunschvorstellung um jeden Preis aufrechterhalten.
»Veenstra spritzt mit den besten Absichten, um den Patienten zu retten. Er bewahrt ihn vor Schmerzen. Er sorgt dafür, dass er Sauerstoff bekommt. Er erhält ihn am Leben!«
»Retten, bewahren, zum Leben erwecken«, entfährt es Drik. »Dieser Anästhesist scheint ja der reinste Jesus Christus zu sein! Das ist doch völlig unrealistisch! Du machst etwas daraus, was überhaupt nicht stimmt.«
Soll ich sagen, dass meine Schwester diesen fabelhaften Beruf ausübt? Dann glaubt er mir vielleicht. Mit Mühe unterdrückt Drik ein Aufstöhnen. Allard hat sich erhoben. Die Zeit ist noch nicht um. Er kann aber keinen klaren Gedanken mehr fassen.
In der Woche darauf berichtet Allard, dass er mit seiner Supervisorin gesprochen habe. Er hat sich für sein Davonlaufen entschuldigt und Besserung gelobt. Da er inzwischen auf die Aufnahmeabteilung zurückgekehrt ist, arbeitet er wieder eng mit ihr zusammen. Es scheint ihm zu gelingen, seine Angst im Griff zu behalten. Er beobachtet eine ältere Pflegekraft, wie sie mit den Patienten umgeht. Er versucht, sich etwas davon abzuschauen.
Drik hört es sich an. Es beruhigt ihn ein wenig, obwohl er der Sache nicht ganz traut. Wie auch immer, sein Ärger ist jedenfalls verraucht, und er fühlt sich nicht mehr so machtlos. Sein Vorhaben, die Therapie einmal mit Peter zu besprechen, hat er auf die lange Bank geschoben. Das sollte nur im Notfall geschehen, lieber wahrt er die Diskretion und belastet seinen Freund nicht mit geheimen Kenntnissen über jemanden, der bei ihm in der Ausbildung ist.
Er hat damit begonnen, das Haus aufzuräumen. Suzan hilft ihm, wenn sie Zeit hat. Es erstaunt Drik, dass seine Schwester scheinbar ungerührt Hannas Kleider aus Schränken und Schubladen nehmen, sie begutachten und beherzt über ihre Verwendung entscheiden kann. Der größte Teil wandert in Plastiksäcke für die Rumänien-Nothilfe. Nur wenige Stücke, eine Strickjacke, ein Jäckchen, behält sie zurück.
»Für Roos«, sagt sie. Für sich selbst wählt sie die Wanderschuhe. Sie hat die gleiche Schuhgröße.
Drik trägt die Säcke nach unten. Im Flur sind Umzugskartons aufgestapelt. Hannas historische Bibliothek, für Roos bestimmt.
»Daran habe ich nicht einen Moment gedacht«, sagt Suzan. »Gute Idee. Wollte Roos sie denn auch?«
Drik nickt. »Ich bringe sie ihr morgen. Sie freut sich.«
In der Küche sprechen sie über ihren Vater. Suzan ist kürzlich bei ihm gewesen.
»Seit dieser Grippe ist er noch abwesender. Wenn sich das verschlimmert, wird er wohl auf die Krankenstation müssen. Die Endstation.«
Drik überlegt, ihr von seinem schockierenden Gespräch mit Hendrik zu erzählen. Aber warum erst jetzt? Das liegt schon ein halbes Jahr zurück. Ich halse ihr etwas auf, womit sie nichts anfangen kann. Seine Schuldgefühle, seinen Gefängniswahn. Ich muss selbst wieder einmal zu ihm, schauen, ob diese Gedanken anhalten. Suus hat ihren eigenen Kummer.
»Wie geht es deiner Freundin, der mit den Herzproblemen?«
Suzan stellt geräuschvoll einen Sack Schuhe und Stiefel im Flur ab. Als sie in die Küche zurückkommt, wäscht sie sich an der Spüle die Hände. Drik blickt auf ihren Rücken.
»Sie arbeitet wieder, halbtags. Sie ist gesund, nicht alt, nicht dick, sie raucht nicht und trinkt wenig. Wie kommt man da zu verstopften Gefäßen? Sie hat drei Stents gekriegt, alles läuft wieder prima durch. Das war natürlich ein Schock für sie. Sie hat die Intensivstation zum ersten Mal als Patientin erlebt. Es war furchtbar, sagt sie.«
»Ist sie depressiv? Bekommt sie irgendeine Nachsorge?«
»Das weiß ich nicht. Sie ist jedenfalls ständig müde. Nachsorge bekommt man bei uns nur
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