Die Betäubung: Roman (German Edition)
für die körperliche Seite. Psychisch gibt’s bei uns nicht. Sie hat einen netten Chef, Berend, du hast ihn bestimmt schon mal kennengelernt. Ich glaube, die beiden haben ein Verhältnis. Er schont sie jetzt wirklich, bei der Arbeit, sie kann sich ihrem Forschungsprojekt widmen und braucht keine Patienten zu sehen.«
»Ein Verhältnis? Hast du sie das mal gefragt? Sie ist doch verheiratet! Sie hat Familie!«
Suzan zuckt die Achseln.
»Kann doch passieren. Ich weiß es ja nicht mit Sicherheit. Roos hat, glaube ich, einen Freund. Hast du was darüber gehört? Nein, das sagst du mir natürlich nicht. Eine Vertrauensfrage.«
Sie fuhrwerkt energisch an der Spüle herum. Womöglich zerbricht sie noch etwas, denkt Drik.
»Wenn du mir etwas anvertraust, erzähle ich es doch auch nicht weiter. Roos muss selber wissen, was sie wem erzählen möchte. Siehst du sie oft?«
»Oft, oft«, brummt Suzan. »Nein, nicht oft. Ich arbeite, weißt du. Vorige Woche habe ich sie gesehen. Sie ging doch tatsächlich zu Leida und fragte, ob ich mitkäme. Ich war ziemlich alle, hatte einen Nachtdienst hinter mir.«
»Was hat Roos denn bei Leida verloren? Wusstest du, dass sie Kontakt zueinander haben?«
»Ich weiß nie etwas. Es geschieht einfach. Sie wollte Leida über berufstätige Frauen befragen. Für ein Referat oder so.« Sie setzt sich an den Tisch und stützt den Kopf in die Hände.
»Ich habe heimlich mitgehört. War natürlich wieder mal mit irgendwas in der Küche beschäftigt. Leida erzählte ganz begeistert von ihrer Zeit als Krankenschwester. Und dass sie ihren Beruf aufgegeben habe. Es klang nicht mal nachtragend. Ich hatte immer Schuldgefühle, dass sie ihren Beruf aufgeben musste, um für mich zu sorgen. Für uns. Sie sagte zu Roos, dass es sie freue, dass wir beide Ärzte geworden sind. Das hörte ich zum ersten Mal. Ich habe immer gedacht, sie hätte Probleme damit. Ich fand sie missgünstig damals. Ich durfte nie etwas über mein Studium erzählen.«
»Schade«, findet Drik. »Sie hat dir mal eine Anatomiepuppe geschenkt. So eine mit Klappe im Bauch, aus der man die Organe herausnehmen konnte. Eine kleine Leber. Nieren. Ziemlich gruselig. Weißt du, dass ich völlig vergessen hatte, dass sie mal Krankenschwester war?«
»Ich erinnere mich schon daran, dass sie Geschichten über den Blutkreislauf und den Stoffwechsel erzählte, als ich klein war. Ich dachte, das seien bedeutsame Themen, weil sie so ernsthaft darüber sprach. Aber als es bei mir ernst wurde, durfte ich ihr nicht damit kommen. Oder habe ich das die ganze Zeit falsch gesehen?«
»Beides kann wahr sein. Sie wird dich sicher beneidet haben. Das schließt aber nicht aus, dass sie auch stolz auf dich ist. Roos gegenüber kann sie das vielleicht leichter äußern. Und sie ist jetzt alt. Da werden Menschen ja angeblich milder.«
»Glaubst du das? Ist das so?«
»Nein«, sagt Drik, »ich sehe, ehrlich gesagt, häufiger, dass Menschen im Alter erstarren und verbittern. Aber die, denen ich begegne, gehören natürlich auch einer Sondergruppe an, die nicht repräsentativ ist. Leida war schon starr, als wir jung waren, vielleicht geht es bei ihr also gerade andersherum, und sie wird jetzt lockerer. Nimm’s dir nicht zu Herzen, du kannst nichts dafür, dass sie so ein schwieriger Mensch ist. Sei froh, dass Roos gerne zu ihr geht, dann müssen wir weniger oft hin.«
Ich kann sie nicht trösten, denkt er. Weil es mir früher selbst schlechtging und ich nicht daran erinnert werden mag? Ich hätte ihr ein besserer Bruder sein müssen. Ach, wie ich diese Grübeleien hasse! Womöglich bin ich neidisch auf Suzan. In ihrem Beruf herrscht Eindeutigkeit: Wenn der Blutdruck steigt, gibt man Nitroglyzerin, wenn er sinkt, ist man mit Epinephrin zur Stelle. In meinem Beruf muss man sich durch einen Sumpf aus Unklarheiten manövrieren, und das allein anhand seiner Intuition. Es gelingt mir nicht mehr. Ich kann nicht mal meine eigene Schwester verstehen. Er greift zur Whiskyflasche.
»Komm, Suzan, lass uns was trinken. Danke, dass du mir mit Hannas Sachen hilfst. Ohne dich würde ich das nicht fertigbringen.«
Als sie anstoßen, sieht er, dass Suzan Tränen in den Augen hat. Er weiß nicht, was er sagen soll.
Drik hat Allards Akte vor sich auf den Tisch gelegt, um sie gründlich durchzugehen, vom Beginn vor rund neun Monaten an. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, nach jeder Therapiesitzung aufzuschreiben, worüber er mit dem jeweiligen Patienten gesprochen hat und
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