Die Betäubung: Roman (German Edition)
waren? Ob sie so tut, als wäre er krank, würde wieder gesund, käme zurück? Suzan schaut am Haus empor. Über dem Erker im Erdgeschoss sieht sie die großen Fenster von Hendriks Studierzimmer. Was er dort studierte, ist ihr immer ein Rätsel geblieben. Es ist ein großes, helles Zimmer.
»Sie hat ihr Bett in Opas Zimmer stellen lassen«, sagt Roos. »Ich habe ihr geholfen, seine Sachen zu verstauen und sie in sein Schlafzimmer zu bringen. Das kann jederzeit wieder rückgängig gemacht werden, sagt sie. Sie wollte nur nicht immer zwei Treppen raufmüssen. Er kommt nicht zurück, oder?«
»Nein, das wird er wohl nicht.«
»Sie weiß das auch, aber sie möchte nichts weggeben, solange er noch lebt. Sonst würde sie umziehen. Sie hätte lieber eine Etagenwohnung.«
Roos hat geklingelt. Suzan erschrickt über den vertrauten Ton der Klingel, teils, weil es sie unmittelbar in die Vergangenheit zurückversetzt, teils, weil ihr bewusst wird, wie lange sie nicht mehr hier war. Die Tür öffnet sich knarrend.
Wie kerzengerade sie dasteht, denkt Suzan, keine verkrümmte Wirbelsäule, nicht dieser vorgereckte Vogelkopf auf dem Rumpf, wie ihn die meisten Frauen ihres Alters haben. Eine würdevolle alte Dame mit Kurzhaarfrisur, gepflegten Nägeln und hübscher blauer Strickjacke zur schwarzen Hose. Komische Pantoffeln allerdings.
»Ich wollte dir gern noch was zu der Untersuchung erklären«, sagt Roos. »Mama ist mitgekommen. Die war gerade bei mir zu Besuch.«
»Kommt rein«, sagt Leida. Sie gibt Roos einen Kuss und winkt sie in den Flur. Suzan folgt, das Gebäck in der Hand wie eine Opfergabe.
»Hast du heute frei?« Leida hält ihr die kühle, weiche Wange hin.
»Ich hatte Nachtdienst.«
Leida nickt und geht in das Erkerzimmer voran. In der Küche, am Ende des Flurs, findet Suzan die Porzellanschale mit dem Blumenmotiv. Sie arrangiert das Gebäck darauf und bleibt kurz am Küchenfenster stehen. Durch die offenen Türen hört sie vage die Stimmen aus dem Wohnzimmer. Zögernd geht sie darauf zu, zaudert an der Tür, sieht Leida und Roos einander gegenübersitzen, im Gespräch.
»Soll ich die Rosen auch gleich machen?« Der Strauß liegt auf dem Tisch.
»Vasen stehen unter dem Spülbecken«, sagt Leida. Suzan nimmt die Blumen mit. Etwas zu tun. Stiele anschneiden, Blätter entfernen, aufpassen, dass sie sich nicht an den Dornen sticht.
Die Buche hinten im Garten ist ein Riese geworden, mit einem dicken Efeumantel um den Stamm. Der Garten sieht gut aus. Ob Leida selbst auf den Knien Unkraut jätet, oder leistet Roos ihr auch hier Hilfe? Ganz still steht Suzan mit der Vase voll Rosen in den Armen auf der Schwelle der Küchentür.
»Es war damals nicht üblich, dass Mädchen studierten«, hört sie Leida sagen. »Zur Untermiete wohnen, in einer fremden Stadt, nein, das geschah nicht so ohne Weiteres. In die Krankenpflege konntest du aber schon gehen, da wohnte man ja im Krankenhaus, intern. Also habe ich das gemacht. Hendrik durfte studieren. Ich habe ihn hin und wieder besucht. Er wohnte in einem Studentenwohnheim mit lauter Jungen, die sich ganz wichtig taten, aber noch gar nichts erlebt hatten. Dachte ich damals.«
»Fehlte Hendrik dir?«
Siehst du, denkt Suzan, wir hätten ein zweites Kind bekommen sollen. Sie hätte gern einen Bruder gehabt, sie braucht einen Bruder.
»Ja. Bis dahin hatten wir fast alles zusammen gemacht. Aber ich sah ihn relativ oft, erst recht, als er sich mit deiner Großmutter verlobt hat. Sie war meine Freundin.«
»Wie war es, Krankenschwester zu sein?«
»Ausschließlich Frauen. Es gab nur Schwestern. Heute heißt es ›Fachpflegekraft‹, weil auch Männer darunter sind. Wir trugen gestärkte Hauben auf dem Kopf. Wir waren Tag und Nacht beschäftigt. Man hatte Unterricht und man hat gearbeitet und man aß und man schlief – man brauchte das Krankenhaus eigentlich nie zu verlassen. Ich war zufrieden. Es ist so lange her.«
»Was hat dir denn daran so gut gefallen?«
Es ist einen Moment still. »Was den Menschen fehlte, das interessierte mich. Die Lehre von den Krankheiten, die Biologie, die Funktion der Organe. Ich las viel und hörte gut zu, wenn die Ärzte sich besprachen.«
»Du hättest vielleicht selbst Ärztin werden sollen.«
»Das wäre bestimmt ein befriedigender Beruf für mich gewesen. Aber es ist anders gekommen. Du kannst Pläne haben, aber ihre Verwirklichung hast du nicht immer in der Hand. Heute, scheint mir, denken junge Frauen, dass alles machbar ist, aber so
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