Die Betäubung: Roman (German Edition)
wie der Kontakt verlief. Nur mit Mühe kann er seine eigene Handschrift lesen. Er seufzt und setzt sich auf seinem Stuhl zurecht. Hinter seiner Stirn lauert ein stechender Kopfschmerz. Zu viel Alkohol gestern. Eine vage Erinnerung an die Nacht treibt ihm die Schamesröte ins Gesicht. Er sieht sich im Flur, neben den Kartons mit Hannas Büchern und den Kleidersäcken auf dem Fußboden sitzen und weinen. Sentimental, unbeherrscht. So will er nicht sein. Dieser Weinkrampf erleichterte ihn nicht, sondern machte ihm Angst. Er musste sich an den Umzugskartons festklammern, um nicht in einen pechschwarzen Abgrund zu stürzen. Das ist ein alter Traum, aus dem er als Kind immer schreiend erwachte, so dass er schließlich Schwierigkeiten hatte, überhaupt noch einzuschlafen. Wie war das gewesen, wenn er nachts wach wurde und schrie? Hatte Leida dann nach ihm geschaut, sein Vater? Suzan schlüpfte zu ihm ins Bett, fällt ihm jetzt ein. Sie konnte seinen Namen anfangs nicht aussprechen, »Diederik« war zu schwierig. Sie machte Drik daraus. Dass jemand zu ihm kam, der kleiner und ohnmächtiger war als er selbst, half ihm dabei, sich aus seiner Panik herauszuhangeln. Dank ihr wurde er wieder zum großen Bruder, zum Jungen mit den Worten, zum Beruhiger.
Heute Nacht war niemand zu ihm gekommen. Er war auf dem Fußboden sitzen geblieben, bis er vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Wasser getrunken, gepinkelt, unter die Decke. Die Vorhänge zugezogen vor der aufgehenden Sonne.
Die Protokolle von den Sitzungen mit Allard wirken konfus. Da ist keine Linie zu erkennen, die Gespräche schießen hierhin und dorthin. Die Abschnitte, in denen es um die Kontaktentwicklung beziehungsweise um deren Nichtvorhandensein geht, zeugen von größerer Stringenz. Drik liest retrospektiv, wie er sich anstrengt, an Allard heranzukommen, und wie der Junge sich wütend wehrt, wenn das zu gelingen droht. Nach so einem Zusammenprall folgt eine mehrwöchige Phase, die Drik als »Pseudokontakt« bezeichnet. Dann scheint es, als habe Allard etwas von den Interventionen, als gehe es ihm besser. Er bezieht sich dann auch auf das, was Drik gesagt hat. Doch die Interaktion fühlt sich an wie Theater. Drik kann bei dem Jungen keine wahren Gefühle verspüren, und das bereitet ihm wachsendes Unbehagen.
Er schlägt die Akte zu und starrt an die Decke. Was kann er über den Kernkonflikt seines Patienten sagen? Versuch’s mal, fordert er sich selbst auf, in einfachen Worten. Der Junge ist stinkwütend auf den Vater, der ihn verlassen hat. Der Junge ist verzweifelt auf der Suche nach dem Vater, der ihn auf den Schoß nehmen wird. Wenn es sich um eine echte Ambivalenz handelte, könnte er beides nebeneinander empfinden. So ist es aber nicht. Er kann das, was in ihm vorgeht, nicht mal als Gefühl benennen, sondern lebt es in Handlungen aus: Er breitet seinen Besitz auf Driks Couch aus, rennt aus der Sitzung davon, ohne sich zu verabschieden. Wenn ich die Wut benenne, reagiert Allard mit Überanpassung. Wenn ich ihn auf diesen Gehorsam aufmerksam mache, wird er böse. So geht es schon seit Monaten. Wir kommen nicht von der Stelle.
Ich mache irgendetwas nicht richtig, denkt Drik, den Kopf in die Hände gestützt. Was würde ich sagen, wenn ein Supervisand meinen Rat zu dieser Behandlung einholte? Lass das mit der Ambivalenz, so weit ist der Patient noch nicht. Versuch zunächst, die Schauspielerei, das Agieren mit dem darunterliegenden Gefühl in Zusammenhang zu bringen. Also: Immer die Wut benennen und darauf achten, dass du die richtigen Worte wählst. Keine Beschuldigung. Wut ist normal, dafür braucht man sich nicht zu schämen. Verwende Ausdrücke, die das gemeinsame Arbeiten hervorheben, damit sich der Patient nicht allein fühlt. Aber wahre die Distanz, sonst verscheuchst du ihn. Das würde ich sagen. Klingt eigentlich ganz gut. Fehlt nur noch die Umsetzung.
Doch als ihm der Junge gegenübersitzt, befängt ihn die übliche Unsicherheit. Allard erzählt von seinem Wochenende. Er hat ein Konzert besucht, zu dem ihn seine Mutter eingeladen hatte.
»Ich hatte vorher noch daran gedacht, sie nach der Scheidung zu fragen. Aber das ging dann nicht. Sie hatte sich auf diesen Abend gefreut. In Schale geworfen und so. Wir sind essen gegangen, haben über meine Arbeit und ihre Arbeit geredet. Ich wollte nicht, dass sie traurig wird.«
»Was macht deine Mutter eigentlich?«
»Sie ist bei der Polizei. Leitet die Einsatzzentrale für Gewaltverbrechen.«
»Das klingt
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