Die Betäubung: Roman (German Edition)
tough. Würde es sie nach all den Jahren wirklich noch traurig machen, wenn du dich nach der Scheidung erkundigst?«
Allard presst die Lippen aufeinander.
»Hat sie einen neuen Partner?«
Das hätte ich alles schon vor Monaten fragen müssen, denkt Drik, das gehört zum Erstgespräch. Wie hat er mich so weit gekriegt, dass ich es nicht getan habe? Er bringt mich dazu, genauso chaotisch zu denken, wie er selbst es tut. Aber ach, besser spät als nie. Er sieht Allard fragend an, als sei er davon überzeugt, dass er eine Antwort bekommen wird.
»Schon seit Jahren. Harry. Geiger. Wir sind in ein Konzert von seinem Orchester gegangen. Schönes Konzert übrigens. Strawinsky. Und das Violinkonzert von Alban Berg. Mögen Sie Musik?«
»Ich bin ein ausgesprochener Strawinsky-Liebhaber«, sagt Drik spontan. Er hätte natürlich zuerst fragen müssen, welche Vorlieben der Junge hat und was es für ihn bedeutet. Der orthodoxen Auffassung nach hätte er überhaupt nichts von sich erzählen dürfen. Nach dem allmählich populärer werdenden Dogma der Self-Disclosure ist das schon erlaubt. Drik vermutet, dass er so prompt geantwortet hat, weil er den Jungen nicht in Harnisch bringen wollte. Oder weil er sich einen abfälligen Kommentar ersparen wollte – typisches Therapeutengehabe, nie auf irgendetwas zu antworten, ganz schön feige, ganz schön armselig –, ja, dadurch, dass er seine Liebe zu Strawinsky gleich auf den Tisch legte, hat er sich davor geschützt.
Allard nickt zustimmend.
»Keine schlechte Wahl, diesen Komponisten zu lieben.«
Er sagt nicht: Ich liebe Strawinsky auch. Die Nähe, die er ertragen kann, hat Grenzen, denkt Drik. Und wünscht sich, dass er es jetzt mal für eine Weile schafft, den Mund zu halten.
»Anschließend sind wir noch in ein Café gegangen und haben uns über die Musik unterhalten, den Dirigenten. Da konnte ich auch nicht einfach von früher anfangen. Zumal Harry dabei war. Es war nett. Das wollte ich nicht verderben.«
»Hört sich plausibel an. Umgänglich, freundlich. Aber du versagst dir damit die Beantwortung deiner Fragen. Du arrangierst dich lieber, als deine Neugierde ernst zu nehmen.«
Das wird nichts. Die Sitzung wird sich dahinschleppen, zäh, unbehaglich.
»Sie meinen, ich müsste mich für mich entscheiden? Ich sitze doch schon einmal die Woche hier und rede eine ganze Stunde lang von mir selbst. Soll ich meiner Mutter auch noch damit auf die Nerven gehen?«
»Ich meine: Du möchtest zwei Dinge, die in dem Moment nicht miteinander vereinbar sind. Du möchtest, dass man dich nett findet, und du möchtest wissen, wie es während der Scheidung war. Du entscheidest dich fürs Nettsein und lässt die Fragen fallen. Du könntest auch zu deiner Mutter sagen: Ich würde dich gern mal etwas fragen, hättest du diese Woche Zeit, dann komme ich zu dir.«
Drik findet, dass das wie ein Auftrag klingt, streng. Das findet Allard offenbar auch.
»Da brauchen Sie sich wirklich nicht einzumischen. Ich werde meine Mutter nicht belästigen, nur weil Sie es für nötig halten, haarklein zu wissen, was sie mit meinem Vater ausgefochten hat. Ich entscheide selbst, was ich mit ihr bespreche und was nicht.«
»Natürlich. Es ist dein Leben. Aber es ist meine Aufgabe, dir mögliche Gedanken und Vorgehensweisen zu unterbreiten, damit wir untersuchen können, was du davon hältst. Ich trage dir nichts auf, du bestimmst selbst, was du tust.«
»Am liebsten gar nichts«, sagt Allard leise. »Sie fängt an zu weinen, da bin ich mir sicher. Und sagt mir, wie schwer es war, mich allein großzuziehen. Und vermittelt mir das Gefühl, dass ich nicht ganz dicht bin, weil ich mir immer noch Gedanken über früher mache. Nein, das lasse ich lieber bleiben.«
»Das klingt, als müsstest du dich mit ihr streiten, aber es geht doch nur um eine Information, oder nicht? Ich glaube nicht, dass es einen Sinn hätte, jetzt einen Konflikt mit deiner Mutter vom Zaun zu brechen. Der Konflikt steckt in dir selbst. Damit müssen wir uns befassen.«
Drik ist ziemlich zufrieden über diese Intervention – er hat die Überflüssigkeit des Agierens angesprochen, den inneren Konflikt in den Vordergrund gestellt. Seine Gedanken schweifen kurz ab, er denkt an seine eigene Mutter, die sich vielleicht von einer Steilküste hat hinunterstoßen lassen. Geht er selbst auf Faktensuche? O nein, das traut er sich genauso wenig wie Allard. Aber man darf nicht aufhören zu hoffen, dass die Patienten Dinge bewältigen, denen man
Weitere Kostenlose Bücher