Die Betäubung: Roman (German Edition)
Es war nichts.
Sie hat ihren Mundschutz wieder hochgeschoben und verfolgt andächtig, was Kooiman macht.
»Ihr könnt ruhig einen Kaffee trinken gehen«, sagt sie, ohne jemanden anzusehen. Allard und ein Anästhesiepfleger verziehen sich.
Ich bin wirklich nicht ganz bei Trost, denkt Suzan. Ein brechend voller OP, doppelte Anästhesiebesetzung, vollzähliges Röntgenteam – und ich hocke unter dem Tisch und knutsche mit einem Assistenzarzt. Einem Schüler.
Mit einigen hellen Schlägen hämmert Kooiman die Stütze am Knochengerüst fest, ein angenehmes mechanisches Geräusch in dem Spiegelkabinett aus Kameras und Bildschirmen. Es ist einfach nicht passiert. Es war nur eine Eingebung, ein Wink des Lebens. Das kommt davon, wenn man neben einem Scheintoten steht. Es ist nichts passiert. Aber was schmeckt sie dann, was erzählt ihre Zunge, woran erinnern sich ihre Lippen?
Auf dem Bildschirm ist eine Konstruktion wie aus dem Stabilbaukasten zu sehen, die die Wirbel tadellos zusammenhält. Selbst Kooimans Blick verrät Zufriedenheit. Durch die Ports saugt er das Operationsgebiet sauber. Dann wartet er ab. Keine Blutungen.
»Möchtest du nicht auch mal kurz weg?«, fragt Allard. Er steht plötzlich hinter ihr und strahlt Wärme ab.
»Ich warte bis zum Schließen.« Sie schaut sich nicht um. Es ist nichts passiert.
Als die Plastikports entfernt und die Inzisionen genäht sind, macht sie sich daran, den kollabierten Lungenflügel wieder zum Leben zu erwecken. Auf dem Schirm quillt die weißgraue Masse langsam auf, wölbt sich im Atemrhythmus Woge für Woge über Aorta und Wirbelsäule, wächst und wächst, bis der gesamte Schirm damit ausgefüllt ist. Alle schauen zu. Nichts passiert, denkt sie, siehst du, nichts passiert. Sie horcht die Lunge ab und nickt Kooiman zu. Alles unter Kontrolle.
Zu zweit fahren sie den Mann in den Aufwachraum. Er stöhnt laut, ja schreit schon fast. Wer kann ihm erklären, wie eine Morphinpumpe funktioniert? Ginge das per Dolmetschertelefon? Arbeitet nicht eine Marokkanerin bei uns in der Anästhesie?
»Ob es eine Frage der Kultur ist, dass er so jammert?«, fragt Allard. »In Marokko macht man das vielleicht so, wenn etwas Schlimmes passiert ist.«
»Wir werden fürs Erste die Schmerzmitteldosis erhöhen. Danach müssen sie weitersehen.«
Suzan macht die Übergabe für den Patienten, und Allard stöpselt alles ein, hängt den Infusionsbeutel auf und deckt den Mann sorgsam zu.
»Komisch, ihn so zurückzulassen. Sollten wir uns nicht danach erkundigen, ob Angehörige da sind und ob die kommen? Oder ein Hausarzt? Gehen wir einfach weg?«
Suzan schaut von der Patientenakte auf, in die sie gerade etwas hineinschreibt. »Er ist nicht unser Patient. Nicht mehr. Er ist Patient des Chirurgen und später des Stationsarztes. Wir sind fertig. Ich schaue heute Mittag noch mal kurz, wie es mit der Lunge aussieht, auch mit den Schmerzen, aber wir sind nicht mehr zuständig.«
»Der Mann hat vielleicht niemanden! Er ist gelähmt, sein ganzes Leben ist vor nicht mal drei Tagen in sich zusammengestürzt. Und niemand kann ihn verstehen. Eine psychiatrische Konsultation ist doch wohl das Mindeste, sollten wir die nicht in die Wege leiten?«
Suzan schüttelt den Kopf. Sie weist Allard auf den Nascheimer hinter dem Computer hin. Er greift hinein und fischt ein rosafarbenes Herzchen aus dem Sortiment. Das überreicht er ihr mit leichtem Erröten. Sie lachen beide.
»Ich, äh …«, setzt er an.
»Sag nichts. Wir können kurz etwas essen gehen, bevor wir weitermachen.«
Im Kaffeeraum trifft Suzan Rudolf Kronenburg, der einen Dufthauch teuren Rasierwassers um sich verbreitet. Sie setzt sich zu ihm.
»Warst du bei dieser Wirbelstabilisierung? Mann, was für ein Zirkus. Lief es gut?«
»Sehr gut.« Während sie es sagt, empfindet sie es auch so. Die Anästhesie lief gut, die Probleme mit der Sauerstoffsättigung konnten rechtzeitig gelöst werden, die Lunge faltete sich in beeindruckender Weise wieder auf. Es lief gut. Was unter dem Tisch vorgefallen ist, gehört dazu. Weiterdenken kann sie nicht, oder sie wagt es nicht, aber sie ist sich ihrer Hüftknochen, ihrer Lippen, ihrer Haare unter der Haube sehr bewusst.
»Ich hatte heute Morgen eine Unterredung mit dem Chef«, sagt Rudolf. »Die lief nicht so gut. War richtig unangenehm. Du behältst das für dich, das bleibt unter uns, ja?«
Suzan nickt. »Worum ging’s denn?«
»Meine Funktionstüchtigkeit. Die ist ungenügend. Der übliche Sermon,
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