Die Betäubung: Roman (German Edition)
sich zu, ein Lernender zu sein, jetzt ist er wirklich in Weiterbildung. Es war also eine gute Entscheidung, obwohl ich das nicht so eingeschätzt habe. Ich fand, es ähnelte eher einer Flucht. Finde ich eigentlich immer noch. Einer Flucht in die vermeintliche Gesundheit. Was ist dagegen einzuwenden? Es geht ihm doch bedeutend besser. Die Dysphorie ist verschwunden, er kann sich besser konzentrieren, eine Zusammenarbeit zwischen uns ist möglich. Was stört mich dann? Der Gedanke, dass er all die unverarbeitete Wut niederhält? Ich habe gelernt, dass das ungesund ist und schaden wird – aber ist es auch immer so?
»Ich bin schon seit halb acht heute Morgen auf den Beinen«, sagt Allard, »und trotzdem bin ich nicht wirklich müde. Es ist abwechslungsreich, immer wieder andere Vorgehensweisen, andere Patienten. Ich versuche mir die ganzen Medikamente und Dosierungen einzuprägen. Man hilft mir, ich kann alles fragen. Im Vergleich zu dieser Frau bei meiner vorigen Stelle ist meine jetzige Supervisorin der reinste Engel. Mit ihr geht alles wie von selbst, wir stehen einander nicht im Weg, wir wissen, was der andere vorhat, noch bevor er es sagt. Sie hört zu. Bei ihr habe ich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.«
»Das klingt ja, als wärst du von der Hölle in den Himmel gelangt. Sind die Gegensätze wirklich so groß, oder willst du es nur gern so sehen, was meinst du?«
»Warum sollte ich es denn so sehen wollen?«
»Um deine Entscheidung zu rechtfertigen? Um dich möglichst weit von all der Aggressivität in der Psychiatrie zu distanzieren? Um es mit deiner Supervisorin noch schöner zu haben?«
»Sie ist was Besonderes. Das mache ich nicht aus ihr, das ist einfach so. Ich muss dauernd an sie denken. Sie ist auch sehr anziehend.«
Wird er jetzt rot? Drik kann es in diesem Licht nicht richtig sehen. Wir sprechen hier von Suzan, denkt er. Absurd, von ihr als »deine Supervisorin« oder »diese Frau, mit der du zusammenarbeitest« zu sprechen. Das fühlt sich wie Verrat an. Soll ich sagen, dass ich ihr Bruder bin? Oder, zur Not, dass ich sie kenne? Dann hält er in Zukunft den Mund über sie. Nein, du darfst deinen Patienten nicht bremsen, du darfst keinen Bereich für tabu erklären. Du musst das ertragen.
»Es ist ein Beruf mit viel Körperkontakt.« Allard fährt mit seinem Lobgesang fort. »Man hat keine Hemmungen, einander anzufassen, da ist man ganz frei. Massiert die Schultern, wenn einer einen verspannten Nacken hat, man steht eng beisammen, auf Tuchfühlung. Sie riecht so gut.«
Als ob er in sie verliebt wäre! Was fange ich jetzt damit an? Es geht um meine Schwester! Sie ist zwanzig Jahre älter, er könnte ihr Sohn sein!
Drik versucht, seine Ruhe wiederzugewinnen. Zwischen Müttern und Söhnen kann sich alles Mögliche abspielen, das weiß er nur zu gut. Und seine Aufgabe ist es, die Gefühle seines Patienten zu untersuchen. Er sieht Allard fragend an.
»Ja, also«, murmelt der Junge, »ich bin, glaube ich, in sie verliebt. Wir haben uns geküsst. Unabsichtlich. Wir saßen unter dem Operationstisch. Ich sah ihr Gesicht, und sie schaute so froh, weil wir gerade eine brenzlige Situation gelöst hatten. Da ist es plötzlich passiert. Danach haben wir ganz normal weitergearbeitet.«
»Normal?«
Jetzt ist das tiefe Erröten Allards unverkennbar.
»Ja«, seufzt er. Dann ist es still.
»Vielleicht sollten wir uns fragen, warum du es unbedingt so rosarot haben willst«, sagt Drik nach längerem Insichgehen.
»Damit ich hier auch mal was Positives zu erzählen habe. Etwas, was gut läuft, etwas, was ich kann.«
Es klingt spöttisch. Unter der Ironie macht Drik etwas anderes aus: den Wunsch nach Anerkennung, nach Lob. Er legt Allard dar, dass die Missbilligung wegen seines Psychiatriefiaskos ausschließlich in seinem eigenen Kopf existiert. Allard zuckt die Achseln.
»Wenn Sie es sagen. Aber so fühlt es sich nicht an.«
Drik ist missmutig. Das führt zu nichts. Ich kann keinen vernünftigen Gedanken fassen. Er saß mit Suus unter dem Tisch! Was treiben diese Anästhesisten eigentlich? Seltsame Leute sind das!
»Du hast die psychiatrischen Patienten als bedrohlich empfunden, aber was du jetzt erlebst, ist auch nicht ohne. Aufgeschnittene Menschen, Amputationen, zum Stillstand gebrachte Herzen. Und dabei empfindest du gar nichts?«
»Nein. Das ist die Arbeit des Chirurgen. Es ist interessant, nicht unheimlich. Es geschieht einfach. Wir sorgen dafür, dass der Patient nichts davon merkt.«
Wieder
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