Die Betäubung: Roman (German Edition)
wieder besuchen. Nach stundenlanger Bahnfahrt kam ich dann in ein Haus, in dem lauter Jungs wohnten. Die Küche war der reinste Sauhaufen, und sie pinkelten ins Waschbecken. Leida gab mir Geld für die Fahrkarte. Aber geredet wurde nicht.«
»Vielleicht konnte er nicht mit dir darüber reden. Vielleicht hatte er Gewissensbisse. Er war keine achtzehn, noch ein halbes Kind.«
»Musst du ihn jetzt wieder verteidigen? Ich war dreizehn, ich musste noch die ganze Schule hinter mich bringen. Es würde noch Jahre dauern, bis ich es ihm nachtun konnte. Böse war ich ihm nicht, ich hatte nur Sehnsucht. Und jetzt lässt er mich wieder im Stich. Ich dachte, ich wäre ihm wichtig. Mit Hanna und so. Immer dieses Weglaufen. Alle laufen weg.«
»Aber doch nicht, um dir eins auszuwischen! Er versucht sich wieder ein eigenes Leben aufzubauen. Genau wie Roos. Deswegen sollten wir nicht beleidigt oder verletzt sein. Höchstens traurig, weil uns etwas fehlt.«
»Roos ist aber böse auf mich. Einmal rufe ich zu oft an, dann wieder nicht oft genug. Sie ist sauer, weil ich mich nicht nach diesem Referat über Leida erkundigt habe. Hatte ich auch vergessen. Ich will nicht an diese Frau denken.«
Peter steht auf und geht in den Garten hinaus.
»Komm mit raus. Es ist so ein milder Abend. Lass alles stehen, ich mach das nachher.«
Sie sitzen zusammen auf der Gartenbank. Das hier ist mein Leben, denkt Suzan, dieser Garten, in dem unsere Tochter ihren Sandkasten hatte und später ihr eigenes kleines Gemüsebeet. Das hier ist das Haus, in das Menschen kommen, die gestärkt werden wollen und Fürsorge brauchen. Aus dem sie weggehen, wenn es genug ist. Wie nimmt man Abschied ohne Wut? Ich weiß mir keinen Rat mehr. Am liebsten würde ich alles, was damit zusammenhängt, einfach nur betäuben, so wie ich meine gesamte Schulzeit in einer Art Nebel zugebracht habe. Ich halte es nicht aus, verlassen zu werden. Ich kann das einfach nicht.
Am nächsten Tag sitzt sie bei der morgendlichen Übergabe neben Ab Taselaar.
»Du machst gleich die Wirbelstabilisierung. Nimmst du deinen Schützling mit?«
»Ja, das habe ich vor.« Sie blickt in die Runde und sieht Allard neben seinem Mentor Winston sitzen. Die beiden unterhalten sich angeregt und lachen.
»Es dürfte ziemlich voll werden im OP«, sagt Ab. »Das Röntgenteam natürlich, ein Haufen Assistenten und zwei Unfallchirurgen aus Indien. Ich hoffe nur, es findet nicht gerade eine Inspektion statt, denn wir stehen bestimmt mit mehr als vierzehn Leuten um den Tisch. Das ist nicht erlaubt.«
»Du könntest doch eine Sondergenehmigung einholen. Das Krankenhaus ist so stolz auf experimentelle Behandlungen wie diese! Bisher wird es nirgendwo so gemacht, das muss man doch zeigen.«
Taselaar brummt.
»Ja, ja. Wenn sie in einem separaten Raum mit Videoübertragung sitzen könnten, wäre nichts dagegen einzuwenden. Es kommen natürlich auch Leute von uns zum Zuschauen.« Er schüttelt den Kopf.
Suzan denkt an den Eingriff. Hohe Querschnittslähmung, vor drei Tagen. An die Wirbelsäule muss ein Haltegerüst gezimmert werden, damit sich der Patient auf lange Sicht wenigstens in einen Rollstuhl hieven kann, ohne dass noch weitere Nerven gequetscht werden. Das gängige Verfahren beinhaltet, dass der Brustkorb geöffnet und die Rippen durchgesägt werden. Dann kann der Chirurg Titanstrips und Schrauben anbringen und alles wieder schließen. Eine stundenlange Operation, die den Patienten schwer belastet und ihm eine Narbe über den gesamten Oberkörper beschert. Heute machen die Unfallchirurgen es anders. Sie bringen durch kleine Inzisionen vier Ports an, durch die sie mit Kameras und Instrumenten in den Brustkorb hineinkönnen. Mithilfe eines Videoschirms und der Röntgenapparatur orientieren sie sich im Innern des Patienten, während sie das stabilisierende Gerüst zimmern. Erfindungsgeist und Technik, fabelhaft. Sie freut sich darauf.
Nach der Übergabe kommt Allard zu ihr herüber.
»Ich habe die Patientenakte eingesehen. Er kommt aus Marokko. Ist auf einen Stuhl gestiegen, um irgendwas vom Schrank runterzuholen. Umgefallen.«
Sie gehen in die Holding Area.
»Möchtest du die Prämedikation machen?«, fragt Suzan.
Allard nickt. Er tritt an das Bett, macht eine Art Verbeugung und stellt sich vor. Dann fragt er langsam und deutlich nach Namen und Geburtsdatum. Suzan lehnt schmunzelnd an der Wand.
Im Operationssaal herrscht schon ziemlich viel Betrieb. Suzan und Allard konzentrieren sich ganz auf den
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