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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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das sagt kein Mensch zu mir.»
    «Ich heiß Theres.»
    «Du bist neu hier, gell?»
    «Ja.»
    Sie schämte sich plötzlich, dass ihr die Gestalt des Jungen solche Angst eingejagt hatte. Sein Gesicht sah eigentlich ganz nett aus, mit den Grübchen in den Wangen und den großen grünen Augen. «Kannst du mir sagen, wie ich hernach zum Speisesaal komm?», fragte sie.
    «Bist etwa noch nicht fertig mit Kehren?»
    «Nein.»
    «Wenn du willst, helf ich dir, und wir gehen zusammen zum Morgenessen. Oder genierst dich mit mir?»
    «Nein, gar nicht.»
    Wobei das allem anderen als der Wahrheit entsprach. Natürlich fürchtete sie den Spott der anderen Kinder, wenn sie gemeinsam mit diesem seltsamen Jungen beim Essen auftauchen würde. Aber jetzt gab es kein Zurück.
    Wenig später stieg sie an Urles Seite die Treppen hinunterins Parterre, wo sich der Speisesaal befand, ein schmuckloser Raum, von dessen Wänden der Putz bröckelte. An einem Stehpult an der Schmalseite, wo sich auch der Durchgang zur Küche befand, wachte eine ältere Frau mit Küchenhaube und langer Schürze über die vier langgestreckten Tischreihen. Vierzig bis fünfzig Kinder hockten dort über ihren Tellern und löffelten schweigend ihren Brei – bis zu dem Moment jedenfalls, als Theres und Urle eintraten. Sofort brandete Gelächter auf.
    «Da schau her! Unser Zwergle hat ein neues Gspusi!», rief der Schwarzhaarige, der Theres am Morgen die Zunge herausgestreckt hatte.
    «Ruhe!» Die Faust der Küchenmagd krachte gegen den Pultdeckel. Dann winkte sie die beiden zu sich heran. «Ihr wisst: Wer zu spät zum Essen kommt, bei dem bleibt der Teller leer.»
    «Ich hatte Kehrdienst», erklärte Urle. «Und die Theres auch. Es ging halt länger diesmal.»
    Die Küchenmagd musterte Theres. «Dich kenn ich noch gar nicht.»
    Theres wollte sich gerade vorstellen, als es durch den Saal raunte: «Achtung! Heinzelmännle und der dicke Fritz!» Sie wandte sich um: Der schmächtige Verwalter, der sie am Vorabend empfangen hatte, war eingetreten, an seiner Seite ein Mann, noch dicker als Büttel Hufnagl, dabei rotgesichtig und mit grauem Backenbart und Glatze. Jetzt schnaufte er vernehmlich, während die Kinder von ihren Bänken auffuhren und strammstanden.
    «Guten Morgen, Herr Oberinspektor! Guten Morgen, Herr Verwalter!»
    «Guten Morgen, ihr Kinder.» Der Dicke trat auf Theres zu. «Da haben wir ja unseren neuen Zögling. Theres Ludwig, nicht wahr?»
    «Ja.» Sie machte einen tiefen Knicks.
    «Und mit unserem Haus- und Hofnarren Urle hast du dich auch bereits bekannt gemacht, wie ich sehe. Nun – ich bin Oberinspektor Fritz, zugleich Hausgeistlicher dieses Instituts. Den Herrn Heintz kennst du ja bereits.»
    Er räusperte sich.
    «Wir haben dich bei uns aufgenommen, Theres Ludwig, um dich eine ehrbare, züchtige und gottselige Lebensführung zu lehren. Lasse hierzu deine Vergangenheit hinter dir, die von mancherlei widrigem Tun, von einem Leben ohne Zucht und Ordnung, geprägt gewesen sein mag. Wildwuchs muss beschnitten werden, dann aber findet sich in jedem von Gottes Geschöpfen der Kern zum Guten, auch bei euch Kindern von der Straße.»
    Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    «Hier bei uns, im Rettungshaus für verwahrloste Kinder, wirst du herangezogen werden zu Arbeitsfleiß, Tugend und Gottesfurcht   – Tugend und Gottesfurcht   …» Er schien den Faden verloren zu haben, und sein Blick schweifte suchend umher, bis er an der Küchenmagd hängenblieb.
    «Gebührendes Verhalten gegenüber dem gesamten Hauspersonal ist oberstes Gebot», fuhr er fort. «Dies heißt: Allen Anweisungen ist in Gehorsam und ohne Widerstreben Folge zu leisten. Unser Lehrpersonal wird dich im Beten wie im Lesen, Schreiben und Rechnen unterweisen sowie im hausfraulichen Tagwerk, und zwar in aller Güte, aber auch mit der nötigen Strenge. Solchermaßen gefestigt, wirst du eines Tages als ein nützliches und arbeitsames Mitglied unserer gesellschaftlichen Ordnung diese Anstalt verlassen und deinen weiteren Lebensweg selbst in die Hand nehmen können.»
    Er nickte, wie um seine wohlgesetzten Worte noch einmal zu bestätigen, und wandte sich dann zum Gehen. Da berührte Wilhelm Heintz ihn beim Arm.
    «Verzeihen Sie, Herr Kollege, aber ich hätte da noch eine Rüge vorzubringen.» Theres zuckte zusammen. «Urban hat mir vermeldet, dass dieses Kind den Waschraum in einen unerhörten Zustand versetzt hat. Es habe ausgesehen wie nach einer Wirtshausschlägerei.»
    Der Oberinspektor

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