Die Bettelprophetin
und gefällig und vermeidet alles grobe Betragen.»
«Genau. Und nun zu dir, Theres. Ich weiß nicht, wie es in deiner Dorfschule gehalten wurde, aber bei uns gilt Folgendes: Das oberste Gebot sind Ruhe und Gehorsam. Ihr seid fast fünfzig Kinder hier, aber ich verlange eine Stille, als wäret ihr nichtda. Wirst du aufgerufen, erhebst du dich und hältst dich gerade. Ich dulde keine Zappelei. Willst du auf eine Frage antworten, hebst du deutlich die Hand, ohne Geschnipse. Für Trauerränder unter den Nägeln gibt’s Tatzen, wie du eben erfahren hast, auch dein Schulgerät hältst du reinlich und in Ordnung. Im Übrigen bin ich nicht nur euer Lehrer, sondern auch euer Aufseher. Ich habe mein Zimmer auf demselben Stock wie eure Schlafsäle. Sollte während der Nachtruhe etwas Ungebührliches geschehen, hast du wie alle andern die Pflicht, die Glocke zu läuten und mir oder der Lehrfrau Wagner Meldung zu erstatten. Verstanden?»
«Ja, Herr Lehrer.»
«Noch etwas: Wie du siehst, sind alle Vagantenkinder in einer Klasse zusammengefasst. Wer von euch sich wider Erwarten durch besonderen Fleiß und Geistesgaben auszeichnet, hat die einmalige Gelegenheit, in die Waisenschule zu wechseln. Dort haben wir drei Klassenstufen, die den jeweiligen Begabungen des Schülers entsprechen. Und jetzt geh mit mir an die Wandtafel und zeig, was du kannst.»
Mit klopfendem Herzen folgte Theres dem Lehrer nach vorn.
«Mit welchem Buchstaben beginnt dein Name?»
Sie nahm ein Stück Kreide und malte langsam, unter grässlichem Quietschen, ein großes T an die Tafel.
«Sehr schön. Und wie heißt dieser Buchstabe?»
Theres schwieg. Hinter dem Rücken des Lehrers sah sie, wie ihre Klassenkameraden sämtlich zu grinsen begannen. Nur Urle und Sophie bewegten lautlos die Lippen, als wollten sie ihr etwas sagen. Aber sie verstand sie nicht.
«Ich – ich hab’s vergessen.»
«Vergessen!» Der Lehrer stöhnte laut auf. «Ist das zu glauben? Wie kann man den Buchstaben vergessen, mit dem der eigeneName beginnt?» Er begann zu brüllen: «T wie Theres – in was für einer Deppenschule warst du eigentlich?»
Seine Stimme wurde wieder ruhiger. «Gut, gut, jeder hat das Recht auf einen zweiten Versuch. Schreib mir ein großes A.»
Jetzt schossen Theres die Tränen in die Augen. Voller Scham schüttelte sie den Kopf.
«Ich kann das Abc nicht», flüsterte sie.
«Was? Lauter!»
«Ich kann das Abc nicht.»
«Noch lauter! Stell dich vor die Klasse und wiederhol diese ungeheure Aussage.»
Lieber Herr im Himmel, lass mich jetzt sterben, dachte sie, als sie einen Schritt nach vorne trat. Die feixenden Gesichter rundum verschwammen zu hellen Flecken.
«Ich kann das Abc nicht», rief sie mit bebender Stimme. Dann durfte sie zurück in ihre Bank und war froh, allein zu sitzen, so sehr schämte sie sich. Für den Rest des Vormittags, während der Rechenstunde und der Leseübungen aus Katechismus und Bibel, wurde sie weder aufgerufen noch sonst irgendwie von ihrem Lehrer beachtet. Eine einzige Aufgabe hatte er ihr übertragen: ihre Schiefertafel abwechselnd mit großen und kleinen A’s zu beschreiben, alles sauber auszuwischen und wieder von vorne zu beginnen.
Endlich läutete die Schulglocke. Die Kinder erhoben sich, um zu beten, dann stürzten sie nach draußen. Nur Theres blieb sitzen. Ihr Handgelenk schmerzte, als sie das letzte kleine a auf den Schiefer presste. Inzwischen hatte der Lehrer sein Pult aufgeräumt, von draußen drangen das Geschrei und Gelächter der Kinder herauf.
«Morgen übst du das B, übermorgen das C. Nach vierundzwanzig Schultagen wirst du das Abc dann hoffentlich beherrschen.» Lehrer Löblich nahm Bibel und Katechismus von ihrerBank. «Die brauchst du ja vorerst nicht. Und jetzt raus mit dir.»
Unten im Hof gingen die Zöglinge, getrennt nach Buben und Mädchen, nach Waisen- und Vagantenkindern, in kleinen Gruppen spazieren. Genauer gesagt, marschierten sie in gleichmäßigem Schritt zwischen zwei verkrüppelten Lindenbäumchen auf und ab. Ganz offensichtlich durfte man hier weder toben noch spielen.
Theres entdeckte ihre neue Freundin bei Rosina und winkte ihr verstohlen zu. Als eines der Mädchen mit dem Finger auf sie zeigte und die anderen zu kichern begannen, wandte Sophie ihr den Rücken zu. Enttäuscht ließ sich Theres auf die Stufen der Eingangstreppe sinken und legte den Kopf auf die Knie.
«Stehst du wohl auf!» Lehrer Löblich verpasste ihr eine Kopfnuss. «Die Recreation ist nicht zum Schlafen
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