Die Bettelprophetin
legte die hohe Stirn in Falten. «Nun, Theres, was hast du hierzu zu sagen?»
Theres stand da mit eingezogenen Schultern und warf einen Seitenblick auf Sophie. Die schüttelte kaum merklich den Kopf.
«Ich hatte Nasenbluten», flüsterte Theres schließlich.
«Nasenbluten?»
«Das kommt manchmal, wenn ich aufgeregt bin.»
Der Oberinspektor lachte dröhnend. «Aber mein liebes Kind – wenn du dich still und gehorsam beträgst, gibt es hier nichts, was du fürchten musst. Was meinen Sie, werter Herr Kollege? Ich denke, für dieses Mal lassen wir es gut sein. Versprichst du, künftig besser achtzugeben, wenn dich das Nasenbluten überkommt?»
Theres nickte und machte abermals einen Knicks.
«Im Übrigen», Wilhelm Heintz setzte eine vollends sauertöpfische Miene auf, «gehört zu einem tugendhaften Geist auch ein angemessenes Äußeres. Das nächste Mal will ich dich ordentlich gekämmt und mit Zöpfen sehen.» Er griff ihr dermaßen fest ins dichte Haar, dass es schmerzte. «Was für ein schönes, kastanienbraunes Haar dir der Herrgott geschenkt hat! Und du lässt es solchermaßen verkommen.»
Theres schluckte. «Ich – ich hab keine Bürste.»
«Dann hol dir heute Mittag eine bei der Hausmagd Susanna ab. Und denk dran: Jedes Kind hat seine eigene Haarbürste, der Austausch ist streng untersagt. Wir wollen hier schließlich keine Läuseepidemie.»
Er warf einen prüfenden Blick auf seine Handflächen und wischte sie an der Hosennaht ab. Dann nickte er dem Oberinspektor zu, und die beiden verließen den Saal.
«Läuse-Theres, Läuse-Theres!», zischte Rosina.
«Halt den Mund, Rosina!» Die Küchenmagd warf der Stubenältesten einen warnenden Blick zu. Dann wandte sie sich an Theres und Urle: «Ihr zwei geht jetzt in die Küche und holt euch einen Teller Brei. Aber flink, der Unterricht beginnt gleich.»
Theres hätte laut losheulen mögen. Es war alles noch schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Was würde wohl als Nächstes kommen?
Nachdem sie und Urle in kürzester Zeit den lauwarmen Haferbrei hinuntergeschlungen hatten, nicht ohne zuvor und danach zu beten, reihten sie sich zu zweit auf, um im Stechschritt zum Schulsaal zu marschieren. Dort, an ein Pult gelehnt, erwartete sie bereits ungeduldig ihr Lehrer, ein junger, schlaksiger Mensch mit spitzem Gesicht und dünnem Zwirbelbart auf der Oberlippe. Die Kinder eilten zu ihren Bänken, um dort strammzustehen, die Buben links, die Mädchen rechts, während Theres unsicher im Türrahmen verharrte.
«Guten Morgen, Herr Löblich!», riefen sie im Chor.
«Guten Morgen.» Der Lehrer blickte auf ein Papier in seiner Hand, dann musterte er Theres. «Willst du dort Wurzeln schlagen? Schließ die Tür und hol dir dein Schulgerät. Dann setzt du dich nach hinten, in die freie Bank.»
Er überreichte ihr zwei Bücher und eine Schiefertafel mit Griffel und Schwämmchen, und Theres tat wie ihr geheißen. Nachdem sie sich in ihre Sitzbank gezwängt hatte, musste sie, wie alle Kinder, ihre Fingernägel vorzeigen und erntete dafür zwei schmerzhafte Tatzen. Zu ihrem Trost bekamen auch Rosina und einige der Knaben das Stöckchen des Lehrers zu spüren.
Nach dem Morgensegen schließlich sagte einer der Buben mehrere Gebete auf, die die Klasse im Chor nachsprach. Mit aneinandergelegten Händen und tief gesenktem Kopf murmelte Theres leise irgendetwas vor sich hin, denn sie hatte weder die Gebete noch das anschließende Kirchenlied jemals gehört. Endlich stimmten sie das Vaterunser an – hiervon wenigstens kannte sie jedes Wort. Mit fester Stimme fiel sie in den Chor ein, und als sie beim «Amen» wieder aufsah, stand der Lehrer vor ihrer Bank. Seine hellbraunen Augen zwinkerten nervös.
«Du bist also Theres Ludwig, acht Jahre alt und kommst von der Alb.»
«Ja, Herr Lehrer.»
«Warst du dort auf der Schule?»
«Manchmal, wenn ich Zeit hatte.»
«So, so. Wenn du Zeit hattest.» Lehrer Löblich verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen, wobei er eine Reihe kleiner, spitzer Zähne entblößte. «Aber Lesen und Schreiben hast du ja wohl gelernt, oder?»
Theres dachte fieberhaft über eine Antwort nach, die nicht gelogen wäre. Schließlich sagte sie: «Ein bisschen.»
Einige begannen zu kichern. Der Oberkörper des Mannes schnellte herum.
«Hier lacht keiner außer mir, verstanden?», brüllte er. «Wie heißt unsere siebente Betragensregel? Jodok!»
Der schwarzhaarige, lange Kerl mit dem bleichen Gesicht sprang auf. «Seiet untereinander friedlich
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