Die Bettelprophetin
gedacht. Los, reih dich irgendwo ein und beweg dich!»
Keine halbe Stunde später rief der Lehrer sie wieder zusammen. Theres begriff, dass man sich immer dem Alter nach aufstellen musste, und so kam sie wieder neben Sophie zu stehen. Hinter ihnen befanden sich nur noch zwei jüngere Mädchen, dem Aussehen nach Zwillinge.
«Jetzt haben wir bis zum Mittagessen Handarbeitsstunde und die Buben nochmal Lernstunde», sagte Sophie leise. «Kannst du stricken?»
Statt einer Antwort fragte Theres: «Bist du jetzt nicht mehr meine Freundin?»
«Doch, schon.» Sophie schob die Unterlippe vor. «Aber die blöde Kuh von Rosina braucht das ja nicht zu wissen.»
Der restliche Tag verging, von Mittag- und Abendessen abgesehen, mit vielerlei Gebetsübungen und Arbeit. Letzteres hatte für Theres immerhin etwas Vertrautes: An endloses Schuftenwar sie gewöhnt, auch wenn sie im Nähen, Spinnen und Stricken nicht sonderlich geschickt war. An diesem sonnigen Frühlingstag indessen hatten sie Glück. Statt zurück in die Näh- und Spinnstube ging es am Nachmittag hinüber in den Garten, wo sie neue Maulbeerbäumchen für die hiesige Seidenraupenzucht setzten. Obwohl Theres die Hand vom Schreiben schmerzte, genoss sie die warme Maienluft wie ein unerwartetes Geschenk. Hier duftete es nach Kräutern und Blumen, genau wie in den Bauerngärten ihres Dorfes, und auf der sonnenbeschienenen Mauer am Ende des Gartens saß ein Amselpärchen und sang um die Wette.
Der Streich einer Weidenrute gegen ihre Schulter brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
«Du hast die Arbeit wohl auch nicht erfunden», keifte die Lehrfrau Wagner, die zusammen mit Lehrer Löblich die Arbeit beaufsichtigte. Bereits in der Nähstunde hatte sie Theres mehrfach gerügt.
«Entschuldigung», murmelte Theres. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass das Amselpärchen verschwunden war; auch wirkte die Mauer plötzlich schmutzig-grau und unendlich hoch.
Von Rosina wurde sie glücklicherweise für den Rest des Tages in Ruhe gelassen, bis auf die Sache mit dem Brot beim Abendessen: Neben jedem Teller lag eine Scheibe Graubrot, nur nicht an Theres’ Platz, dafür hatte die Stubenälteste zwei Scheiben vor sich liegen. Theres tat so, als habe sie nichts bemerkt, innerlich aber bebte sie vor Wut. Den ganzen Tag über waren sie kaum einen Atemzug lang ohne Aufsicht gewesen, nicht mal auf den Abtritt im Hof, eine Bretterhütte mit sechs stinkenden Holzkübeln darin, durften sie ohne Begleitung. Auch jetzt beim Essen wachten sowohl Küchenmagd als auch Aufseherin über ihr Betragen – und da wollte keiner gesehen haben, wie Rosina ihr das Brot gestohlen hatte?
«Das hat sie bei mir am Anfang auch gemacht», flüsterte Sophie und reichte ihr den Rest von ihrem Brot. «Nimm das, ich hab eh keinen Hunger.»
Todmüde fiel Theres an diesem Abend ins Bett. Die Hausmagd hatte das Licht gelöscht, doch ein Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster geradewegs auf ihr Kopfkissen und ließ sie nicht einschlafen. In ihrem Kopf wirbelten die unzähligen Eindrücke des Tages durcheinander, und tief im Innern schwelten Heimweh und Einsamkeit. Ihre Hände umklammerten das Holzpferdchen. Sie dachte an ihren Bruder. Ob Hannes sie auch vermisste? Wehmütig drückte sie die Figur an ihre Lippen und wollte sie eben unter dem Kissen verschwinden lassen, als Sophie fragte:
«Was hast du da?»
Theres reichte ihr das Pferdchen hinüber.
«Das hat mir mein Bruder Hannes mal geschnitzt. Es ist ganz wunderschön.»
Sophie seufzte. «Hast du’s gut.»
«Kannst gern auch damit spielen. So oft du willst.»
«Das mein ich nicht. Ich mein, weil du einen Bruder hast. Ich weiß gar nix von meiner Familie.»
3
Waisenhaus Weingarten, Frühsommer 1832
In den nächsten Wochen, zwischen Schulstunden und Arbeit, religiösen Unterweisungen und Mahlzeiten, erfuhr Theres von ihrer Freundin alles, was wichtig war: so etwa, dass die Waisenkinder tatsächlich etwas Besseres waren, denn sie stammten aus Bürgerhäusern oder ehrbaren Bauernfamilien. Deren Alltag verlief, bis auf die kurzen Erholungszeiten im Hof unddie Andachten und Bibelstunden, strikt getrennt von dem der Vagantenkinder. Sie wohnten in einem anderen Gebäudeteil, waren je nach Alter und Leistung auf drei Klassen mit je eigenem Lehrer aufgeteilt, und nachmittags, wenn die Vagantenzöglinge arbeiten mussten, hatten sie wiederum Unterricht. Vor allem aber: Ihre Kleidung war um einiges hübscher, jeder von ihnen hatte ein eigenes Bett für sich
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