Die Bettelprophetin
müsst längst da sein.» Der Bauer nestelte nervös an dem Strick in seiner Faust, während sich Seibold neben dem Kopf des Tieres niederkniete. Besänftigend strich er ihm über die Stirn, dann über den aufgewölbten Bauch. Dabei sprach er leise auf es ein. Schließlich kreiste seine Hand über die eingefallenen Flanken in Richtung Hinterteil. Was dann geschah, mochte Theres kaum glauben: Seine Hand glitt in die geschwollene Spalte, bis zum Ellbogen verschwand sein Arm darin. Wie der erfahrenste Viehzüchter führte er seine Untersuchung durch, hochkonzentriert und mit geschlossenen Augen! Als er fertig war, nickte er und wandte sich mit einem strahlenden Gesicht an Theres.
«Lass dir von der Bäuerin frisches Stroh geben. Ich glaube, sie schafft es.»
Als Theres mit ihrer Karre Stroh zurückkehrte, ragte zwischen den Schamspalten der Kuh tatsächlich eine glänzende Blase heraus, in dem deutlich die Vorderbeine des Kalbes zu sehen waren. Von da an ging alles ganz rasch. Der Bauer band seinen Strick um die Hufe, und mit vereinten Kräften zogen die Männer das Kalb so weit heraus, bis es mit einem flutschenden Geräusch der Länge nach ins saubere Stroh glitt.
«Ein Stier!», rief der Bauer. «Und a mordsmäßiger Kerle dazu!»
Zu schwach war das Muttertier noch, um aufzustehen und sich um sein Junges zu kümmern, und so knieten Theres undder Pfarrer nieder, um das Kalb mit Stroh zu säubern und zu massieren. Dabei berührten sie sich immer wieder wie zufällig, weshalb Theres kaum aufzublicken wagte.
Nachdem Seibold beide Tiere gesegnet hatte und sie sich von den Leuten verabschiedeten, war Theres mindestens so verlegen wie der Bauer jetzt:
«Net mal ein Krügle Roten hab ich, um mich zu bedanken», murmelte der Mann bekümmert. «Net mal ein Ei, weil’s Huhn nimmer legt.»
«Lass gut sein, Fritz!» Seibold klopfte ihm auf die Schulter. «Da hilfst mir halt mal wieder in der Kirche aus.»
Es war nicht das erste Mal, dass Theres mit eigenen Augen sah, wie arm auch in der Weissenauer Gemeinde viele Menschen waren und wie sehr sie unter der allgemeinen Teuerung und Not litten.
Aber man half einander und fand Halt im Glauben, während es in der nahen Stadt zunehmend brodelte. Bereits im Frühjahr war es dort auf der Kuppelnau zu einer großen Volksversammlung gekommen, bei der die verbotene schwarz-rot-goldene Fahne gehisst worden war. Seither ertönten bei jedem Turn- und Schützenfest die hitzigsten Reden über die Abschaffung von Grundlasten und Abgaben, die lautstarken Rufe nach gleichen Rechten für alle, nach einer einheitlichen deutschen Republik, nach Demokratie und Volksbewaffnung. Zum ersten Mal hörte Theres in jenen Wochen vom Gespenst des Kommunismus, das angeblich unter den Taglöhnern und Eisenbahnarbeitern umginge, und in Ravensburg wie anderswo setzte der bürgerliche Stadtrat die Bildung einer bewaffneten Sicherheitswache durch, da man Gewalt auch mit Gewalt vertreiben müsse.
Von solcherlei Unruhen war hier auf dem Land allerdings wenig zu spüren. Mit den reichen Hansen und Staatsbeamten in der Stadt, die obendrein fast alle evangelisch waren, hatteman nie viel zu tun gehabt, und Theres hatte den Eindruck, dass sich die Weissenauer nun über jeden Akt des Ungehorsams gegen die städtische Obrigkeit klammheimlich freuten.
Überhaupt schien diese Pfarrgemeinde eine eigene kleine Welt zu sein, in der andere Gesetze galten. Hier wurde nicht, wie sonst in den Kirchen des Landes, der Gottesdienst mit Gebet und Gesang für den König abgeschlossen. Dafür fanden weitaus häufiger als anderswo Vespern, Andachten und Eucharistiefeiern statt, wobei die Liturgie durchweg auf Deutsch abgehalten wurde, und auch außerhalb dieser festen Zeiten traf sich, wer Zeit hatte, zum Rosenkranzbeten. Beim Bischof forderte die Gemeinde seit geraumer Zeit eine Wiederbelebung des Weissenauer Blutritts, wenn auch bisher erfolglos. Pauline hatte ihr voller Stolz erzählt, dass in ihrer Weissenauer Kirche, genau wie in Weingarten, ein Tropfen Blut des Herrn Jesu aufbewahrt würde.
«Ist es nicht eine Fügung Gottes, dass wir beide uns wiedergefunden haben an einem Ort, an dem wie in unserer Kindheit ein Blutstropfen Jesu Christi ruht?»
Von Maria Magdalena selbst sei dieser heilige Schatz geborgen worden. Versenkt in einem großen Kristallgefäß in Goldfassung, werde er nun hier im Heiligblutaltar unter dem hohen Kreuz aufbewahrt.
All das hatte ihr Pauline mit glühenden Wangen erklärt. Zugleich konnte sie
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