Die Bettelprophetin
einmal mit ernster Miene an seine Zuhörer: Bevor sie alle nun, in verständlicherFreude, ihren Sieg drüben im Sternenwirtshaus feiern würden, müsse er ihnen noch etwas enthüllen: Von offizieller Seite sei er nicht mehr ihr Pfarrer.
«Ich bitt euch – bleibt doch ruhig!» Er hatte alle Mühe, sich unter der aufbrausenden Empörung Gehör zu verschaffen. «Wenn ihr alle zu mir steht, so, wie ihr dieser Tage auch zu Theres Ludwig gestanden habt, dann kann uns nichts geschehen. Denn Gott ist auf unserer Seite, und ich bin ihm von Herzen dankbar, dass er mir eine solch treue Herde anheimgestellt hat.»
Er machte eine kleine Pause. «In Zeiten, wo die Regierung den Armen mit Knüppeln begegnet und unsere Kirchenoberen dieser Regierung liebedienerisch zur Seite stehen – gerade da müssen wir uns wieder auf unsere urchristlichen Wurzeln besinnen. Lassen wir uns unseren Glauben nicht von der Stuttgarter Staatskanzlei diktieren, und auch nicht von den Kirchenoberen, die unter Bücklingen alles nach unten weitergeben, nur weil sie ihr Amt dem württembergischen Staat verdanken. Man will uns vorschreiben, wie wir zu Gott zu beten haben, man will uns die uralten Bräuche und Rituale der Wallfahrten, der Prozessionen, der Marien- und Heiligenverehrung verbieten, weil es angeblich dem Arbeitsfleiß und der Sittlichkeit des Volkes schade.»
Seine Stimme wurde leiser. Doch man hätte ohnehin eine Nadel fallen hören können.
«In Wirklichkeit macht ihnen Angst, dass unser Glauben hierdurch gestärkt wird! Unsere ungeheuchelte Frömmigkeit, in Gemeinschaft mit allen, ob arm oder reich – ein solcher Glaube passt Männern wie dem Dekan Erath oder dem Bischof in Rottenburg natürlich nicht. Aber das soll uns nicht kümmern: Unser Blick geht nach Rom und nicht nach Stuttgart. Unser Ohr hört auf den Heiligen Vater und nicht auf KönigWilhelm. Das war es, was ich euch noch sagen wollte. Nun aber geht mit Gott und seid fröhlich und dankbar für diesen guten, siegreichen Tag.»
Er wirkte erschöpft, als er jetzt seinen Blick über die Männer, Frauen und Kinder schweifen ließ und kurz bei Theres verharrte. Er nickte ihr zu, lächelte, wandte sich dann um und verschwand in der Sakristei. Für den Rest des Abends bekam ihn niemand mehr zu Gesicht, und selbst sein Gedeck beim Abendbrottisch blieb unberührt.
Theres war enttäuscht. Sie hätte gern mit ihm geredet, noch mehr Einzelheiten aus seinem Mund zu den unerhörten Ereignissen in Ravensburg gehört. Vor allem aber wollte sie wissen, warum sein Lächeln in der Kirche so traurig gewirkt hatte.
27
Pfarrgemeinde Weissenau, Herbst bis Winter 1848
Die Gedanken, die Patriz Seibold in seinen Predigten oder auch bei Tisch äußerte, wurden in den folgenden Tagen immer kampfeslustiger.
«Sie reden sich noch um Kopf und Kragen», schimpfte Käthe eines Abends mit ihm. «Wissen Sie denn nicht, dass in den Kirchenbänken Spitzel sitzen und alles brühwarm weitergeben?»
«Und wenn schon. Ich bin nicht der Einzige, der schlecht über die Obrigkeit denkt. Wer jetzt noch behauptet, die Armut sei das selbstverschuldete Los der niederen Klasse, der braucht sich nicht wundern, wenn auf den Straßen bald Blut fließt. Sollen die Herren in ihren Amtsstuben doch das große Zittern kriegen.»
Im Dezember dann war der Pfarrer häufig im Oberland unterwegs, bis an den Nordrand der Alb, um ein Netz aus Verbündetenzu schaffen. Er suchte Männer der Kirche und der Politik auf, die wie er gegen Polizeistaat und staatskirchliche Allianz zu kämpfen bereit waren und für die Bürgerrechte auch der Ärmsten einstanden. Da er sehr wohl wusste, dass man in Ravensburg nur auf einen geeigneten Moment wartete, um Theres doch noch gefangen zu nehmen, hatte er entschieden, sie zu Bauer Metzler auf den Voglerhof zu bringen. Fürs Erste sollte sie dessen Einödhof nicht verlassen.
«Hier im Pfarrhaus, allein mit unserer guten Käthe, bist du nicht mehr sicher, wenn ich unterwegs bin», sagte er ihr zum Abschied. Er, Käthe und Theres saßen bei ihrem letzten gemeinsamen Morgenessen in der Küche, gleich würde einer der Metzlersöhne sie abholen kommen.
«Aber keine Sorge: Ich habe viele Freunde im Land, und gemeinsam werden wir Druck machen, bis dieser elende Haftbefehl aus Waldsee endgültig vom Tisch ist. Wisst ihr übrigens, wie übel es unserem Ravensburger Dekan Erath inzwischen ergeht?»
Er zog einen Zeitungsschnipsel aus der Rocktasche. «Es stand sogar im Ravensburger Intelligenzblatt! Der
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