Die Bettelprophetin
Stimme. «Sonst täten wir euch nämlich unsre Mistgabeln in den Ranzen rammen.»
Das Gebrüll rundum wurde lauter, und Theres presste sich an Patriz Seibolds Brust. Durch den Stoff seiner Soutane spürte sie, wie auch sein Herz schneller schlug. Da gellte ein Schuss durch die Luft, dann ein zweiter, ein dritter. Für einen Moment wurde es totenstill.
«Erschießt uns nur allesamt», hörte sie Metzler rufen. «Aber die Theres kriegt ihr net, ihr liedrige Lombaseggl!»
«Genau», rief eine Frauenstimme, «euch sollt ma d’ Füß abschlage, dass ihr auf de Schdomba hoimquaddla müesset!»
Ganz eng hatte sich der Ring um Theres geschlossen, und als jetzt erneut ein Schuss fiel, unterdrückte sie mit Mühe einen Aufschrei. Der Tumult vorne wurde heftiger, wütendes Brüllen war zu hören, dann das höhnische Lachen von Metzler: «Nehmt mich nur mit, ihr Deppen! Ihr werdet scho sehn!»
Der Menschenhaufen lockerte sich mit einem Mal, und fast so etwas wie Ruhe kehrte ein.
«Bleib hier stehen und rühr dich nicht.» Seibold ließ sie los und schob sich durch die Menge. Sie hörte ihn rufen: «Morgen sind die drei wieder freie Männer unter Gottes Himmel, das schwör ich euch! Die Obrigkeit hat sich bei uns schon gar nicht einzumischen, richtet das euren Herren Stadträten und Staatsbeamten aus.»
Jetzt sah es auch Theres: Der eine Landjäger hielt Bauer Metzler fest im Griff, die Pistole an dessen Schläfe, der andere stieß zwei junge Knechte in eisernen Handschellen vor sich her. Alle fünf kletterten sie auf einen Wagen, der vor dem Forsthaus gewartet hatte, dann knallte eine Peitsche, und die beiden Pferde preschten im Galopp davon.
Theres hätte erwartet, dass alle in großes Wehklagen ausbrechen würden, stattdessen wartete jeder ruhig ab, was der Pfarrer ihnen zu sagen hatte.
«Morgen früh ziehen wir Männer gemeinsam vor Gericht. Gebt allen Nachbarn, Freunden und Verwandten Bescheid.»
Um nicht zu riskieren, dass Theres doch noch gefangengesetzt würde, musste diese den ganzen nächsten Tag in der Pfarrstube bleiben, unter Bewachung der alten Käthe und zweier kräftiger Arbeiter, die Eduard Erpf hierfür eigens freigestellt hatte. Was sie dann am Abend erfuhr, mochte sie kaum glauben: An der Spitze von rund hundert kampfbereiten Weissenauern war Patriz Seibold vor das Ravensburger Oberamtsgericht gezogen, hatte die unverzügliche Freilassung der drei Gefangenen gefordert und erklärt, jeglicher Gewalt mit Gegengewalt zu begegnen.
Immer mehr Menschen waren vom Viehmarkt her in die Herrengasse geströmt und hatten zusammen mit den Weissenauern das Gerichtsgebäude belagert. Einige, die in vorderster Reihe standen, hatten unter wüstem Geschrei schließlich dasGericht gestürmt und mit ihren Knüppeln mehrere Amtspersonen bedroht, die lautstark verkündeten, Theres Ludwig sei nichts als ein Scharlatan, eine selbsternannte Bettelprophetin, die arme Leute mit niederer Bildung zum Narren halte. Oberamtsarzt Stiegele und ein Gerichtsbeisitzer namens Heupel hätten sich schließlich vor ihren wütenden Angreifern nur noch mit einem Sprung durchs Fenster retten können. Um Zeit zu schinden, hatte der Richter endlich die Freilassung der Gefangenen für den Nachmittag angekündigt, unter dem Vorbehalt, dass die Menge sich auflöse. Wenn nicht, würden Bürgerwehr und Militär eingreifen. Indessen ließ sich kein einziger Uniformierter blicken, während die Anzahl der Aufständischen am Nachmittag bedrohlich angewachsen war. Am Ende kamen die Inhaftierten auf freien Fuß, der Tumult löste sich auf, und im Siegestaumel war man nach Weissenau zurückgekehrt.
Schon von weitem hatte Theres ihren Jubelgesang hören können und war ans Fenster gestürzt. Etliche Ravensburger hatten sich dem Zug angeschlossen, vorneweg marschierten der Pfarrer und Bauer Metzler, und sie alle wurden von den Frauen und Kindern mit Hochrufen und unter Glockengeläut empfangen. Als Patriz Seibold Theres am Fenster entdeckte, lächelte er und winkte ihr zu, bevor er mit der Menschenmenge in der Kirche verschwand.
«Komm!» Käthe nahm Theres bei der Hand. «Gehen wir hinunter zur Dankandacht.»
In der Kirche dann erfuhren Theres und die anderen Daheimgebliebenen von den Ereignissen in Ravensburg, und sie dankte Gott und allen Heiligen, dass Patriz Seibold nichts geschehen war. Denn um ihn hatte sie am meisten gezittert, auch wenn sie das nicht einmal sich selbst eingestanden hätte.
Nach der Lesung wandte sich der Pfarrer noch
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