Die Bettelprophetin
geifern wie ein Rohrspatz über das wüste Treiben in der Stadt, einem wahren Sodom und Gomorrha. Statt in die Kirchen würden Arm und Reich, Frauen wie Männer in die zahllosen Schenken und Wirtshäuser rennen und sich um ihren Verstand saufen, und diese ganzen fremdländischen Lumpenproleten, die mit dem Bau der Eisenbahn gekommen seien, hätten die schändlichste Hurenwirtschaft ins Land gebracht. Auf den Straßen sei man seines Lebens nicht mehr sicher, beijedem Streit flögen Steine oder würden Messer gezückt, und blutjunge Mädchen böten ihren Körper gegen ein paar Pfennige dar.
Pauline wich ihr inzwischen nicht mehr von der Seite, und je heftiger sich das Mädchen ereiferte über die Unmoral der Welt, desto wortkarger wurde Theres. Bis es irgendwann einmal aus ihr herausplatzte: «Sei endlich still, Pauline. Auch ich habe mich schwer versündigt. Mehr als einmal.»
«Aber du bist errettet worden», flüsterte Pauline und schlug die Augen nieder.
Am Morgen von Allerseelen stampfte ein Mann die Treppe herauf und stürmte in die Küche, ohne anzuklopfen. Der Kleidung nach war der Fremde ein Polizeidiener.
«Wer von euch beiden ist die Theres Ludwig?»
Theres ließ vor Schreck den Milchkrug fallen, den sie eben abgetrocknet hatte, als sich die alte Küchenmagd auch schon schützend vor sie stellte.
«Raus hier, oder ich schreie das ganze Dorf zusammen!»
Der Mann, der nicht eben der Größte und Kräftigste war, schob Käthe zur Seite und packte Theres beim Oberarm. Da begann Käthe zu brüllen: «Zu Hilfe! Zu Hilfe!» Theres gelang es eben, sich dem Griff des Polizeidieners zu entwinden, als erneut die Tür aufflog und Patriz Seibold hereinstürzte, barfuß und in Hemdsärmeln.
«Was soll das?»
«Ich hab Befehl, die berüchtigte Weibsperson Theres Ludwig abzuführen. Nach Ravensburg.»
«Niemand wird das Mädchen abführen. Nicht, solange ich hier Pfarrer bin.»
Der Mann zog einen Brief aus der Rocktasche. «Sie sind aber nicht mehr Pfarrer von Weissenau. Unser Dekan hat Sie vorläufigvom Pfarrdienst befreit, unter Billigung des Bischofs von Rottenburg. Wegen offenkundigen Ungehorsams.»
Jetzt grinste der Uniformierte breit.
«Wenn das so ist …»
Mit einem Satz war Seibold bei ihm und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
«Und jetzt raus hier. Da ich nicht mehr Pfarrer bin, brauch ich mich auch nicht so benehmen. Dann kann ich Ihnen ebenso gut den Arm auskugeln.»
Er schleppte den Mann nach draußen in den Flur, wo man ein Gepolter hörte, als würde jemand die Treppe hinuntergestoßen. Kurz darauf erschien Seibold wieder im Türrahmen und glättete sich das zerzauste Haar.
«Was machen wir nun?», fragte Käthe mit dünner Stimme.
«Was soll schon sein? In einer Stunde möchte ich mit der Gräbersegnung beginnen, also richtet euch.»
Während des Gottesdienstes in der Mariathaler Friedhofskapelle hatte Patriz Seibold alle Mühe, seine Gemeindemitglieder bei der Sache zu halten. Wie ein Lauffeuer war herumgegangen, dass ein Ravensburger Polizeidiener ins Pfarrhaus eingedrungen sei, um Theres zu verhaften, und dass der Pfarrer ihn gewaltsam vor die Tür gesetzt habe.
Nachdem Seibold über den frischgeschmückten Gräbern, auf denen zahllose Lichter brannten, seine Segensformel gesprochen und das Weihwasser versprengt hatte, schüttelte Bauer Metzler vom Voglerhof seine kräftige Faust gen Himmel und rief mit dröhnender Stimme: «Die Obrigkeit soll nur kommen! Wer von euch für Theres einstehen will, mit Hab und Gut, mit Leib und Leben – der soll die Hand heben!»
In einer einzigen Bewegung schnellten die Arme in die Luft. Theres, die dicht bei Patriz Seibold stand, sah Tränen der Rührung in dessen Augen, und auch sie selbst musste schlucken.Nein, sie hatte keine Angst mehr. Hier, bei diesen Menschen, die so bedingungslos zu ihr standen, konnte ihr niemand was anhaben.
Keine halbe Stunde später stellten sich ihnen am Ende der Mariathaler Allee zwei Landjäger in den Weg, breitbeinig und diesmal bewaffnet mit Säbel und Pistole.
«Gebt die Ludwig heraus», brüllte der eine.
Noch ehe Theres einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte Seibold sie an sich gezogen, während die Knaben und Männer von hinten nach vorne drängten und einen schützenden Wall um sie bildeten. Sehen konnte sie nichts mehr, aber hören: «Haut ab!» – «Lasst die Theres in Ruh, die gehört zu uns!» – «Schad nur, dass wir vom Friedhof kommen und net aus dem Stall.» Das war Bauer Metzlers
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