Die Bettelprophetin
kleinen Dingen des Alltags. Bei ihrer täglichen Arbeit traf sie auf zahllose Menschen, mit jedem fand sich die Zeit für einen Schwatz. Wie erstaunt war sie anfangs gewesen, dass hier in dieser Gemeinde kein Unterschied gemacht wurde, ob einer gebrechlich oder gesund war, arm oder reich, hier geboren oder aus demAusland zugewandert, wie so viele der Arbeiter in der Bleich- und Appreturanstalt. Selbst Fabrikant Erpf, ein schmaler, aufrechter Mann mit fliehendem Kinn, Backenbart und durchdringendem Blick, hatte für jeden ein freundliches Wort und nahm, wann immer es seine Zeit erlaubte, teil am gemeinsamen Beten und Singen. Gerade Letzteres liebte Theres. Die Kraft, die von den alten Kirchenliedern und Chorälen ausging, empfand sie mit jeder Faser ihres Körpers, und sie merkte erst jetzt, wie einsam sie die letzten Jahre gewesen war.
Nur dass sie etwas Besonderes sein sollte in den Augen der anderen, dass jeder ihre Nähe suchte, das Gespräch mit ihr – daran gewöhnte sie sich bis zuletzt nicht.
Zu ihrem heimlichen Bedauern bekam sie Patriz Seibold in diesen Tagen außerhalb der Gottesdienste kaum zu Gesicht, obwohl sie unter einem Dach wohnten. Dass er so unendlich viel Zeit für Theres aufgewandt hatte, musste eine große Ausnahme gewesen sein, denn er war ein vielbeschäftigter Mann. Neben seinem Amt als Pfarrer unterrichtete er gemeinsam mit dem jungen Lehrer Baptist Probst die über hundert Schüler seiner Elementarschule, hinzu kamen seine regelmäßigen Hausbesuche in den entfernteren Weilern der Pfarrgemeinde und die Sonntagsschule, die keiner der jungen Leute, ganz anders als damals bei Pfarrer Konzet, versäumen wollte. Gewissenhaft hielt er die täglichen fünf Stundengebete ein, spätabends dann stand er bei Kerzenschein an seinem Schreibpult und verfasste Artikel für den «Friedensboten», ein Sonntagsblatt für das katholische Volk, das er seit einigen Jahren herausgab und in dem auch Käthe und Theres immer wieder lasen. In einfachen, klaren Worten wurden darin die Legenden der Heiligen und Märtyrer erzählt und die Riten der einfallenden Feste erklärt. Theres’ Bewunderung für diesen Mann wurde immer größer, sie verstand nur zu gut, warum ihn alle hier liebten und verehrten.
Auch wenn sein Arbeitszimmer vollgestopft war mit Büchern und er in Theres’ Augen ungeheuer klug und gebildet war, redete er in der Sprache des Volkes mit den Menschen. Einmal, als sie ihm das Abendbrot in sein Studierzimmer gebracht hatte, war sie fasziniert vor den vielen Reihen mit Buchrücken gestanden. Fast noch mehr Bände standen hier als damals bei Pfarrer Konzet, auch entdeckte sie neue, unbekannte Namen wie Kant und Humboldt, Schiller und Büchner. Ob wohl alle Pfarrer so gelehrt waren?
«Haben Sie all das gelesen?» hatte sie ihn gefragt, und Patriz Seibold hatte leise gelacht.
«Das hab ich wohl – nur, ob es mich klüger gemacht hat, bezweifle ich. Weißt du», er war aufgestanden und hatte sich dicht neben sie gestellt, «zu viel Wissen kann einen Menschen auch leer machen. Mir erging es so, als ich sehr jung war. Je mehr ich gelesen hatte, desto unglücklicher fühlte ich mich. Weil nichts zwischen diesen Buchdeckeln meine Frage beantworten konnte, was hinter dem Sichtbaren steckt, was das Wesen unseres Daseins ist. Dann habe ich den Glauben entdeckt und bin Pfarrer geworden. Der Glaube ist das einzige Mittel gegen die Zerrissenheit und Ängste unserer Zeit. Ohne Religion und Kulte verharrt der Mensch im Elend, in einem unsäglichen Nichts. Und so versuche ich nun, den Menschen hier meinerseits Halt zu geben im Glauben.»
Dabei war Pfarrer Seibold keineswegs ein Mann der Kanzel. Am liebsten betete und predigte er mitten unter den Menschen, auf Augenhöhe. Und wenn er sie auf ihren Höfen oder in ihren Häusern und Werkstätten aufsuchte, krempelte er nicht selten die Ärmel hoch und half tatkräftig mit, bevor er auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen kam.
Einmal war Theres selbst Zeuge geworden von seiner praktischen, zupackenden Art. Er war auf einen kleinen Hof gerufenworden, um eine hochträchtige Kuh zu segnen, deren Kalb nicht kommen wollte. Es war die einzige Kuh dieser Bauern, und ihr Tod hätte eine Katastrophe bedeutet. Zu Theres’ großer Freude hatte Seibold sie gebeten, sie zu begleiten. Als sie den Bretterverschlag betraten, lag die Kuh auf der Seite im feuchten Stroh, ihr Atem flatterte. Seibold zog seine Jacke aus und hängte sie an einen Haken.
«Das Kalb
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