Die Bettelprophetin
tausend Menschen angewachsen! Was dann in jener verlassenen Heidelandschaft geschehen war, würde sie erst recht nie wieder vergessen. Auf Anhieb hatte sie die Stelle wiedergefunden, hätte es selbst mit geschlossenen Augen vermocht, und hatte mit bloßen Händen zu graben begonnen. Da war alles um sie herum mäuschenstill geworden, und sie hatte innegehalten.
«Warum zögerst du?», hatte der Pfarrer sie leise gefragt und sich neben sie niedergekniet.
«Ich habe Angst vor Gott. Nach allem, was ich getan hab.»
«Das ist gut so. Da du Gott fürchtest, hast du ihn wiedergefunden. Und da du ihn gefunden hast, brauchst du ihn nicht mehr zu fürchten. Unser Gott ist ein gütiger Gott, du kannst ihm vertrauen wie ein Kind seinem Vater.»
Im selben Moment hatten ihre Hände im sandigen Erdreichauch schon Kruzifix und Marienbildnis ertastet, mitsamt dem in zwei Teile gebrochenen Stöckchen. Weder schickte Gott einen Blitz vom Himmel, noch Satan einen seiner Dämonen. Stattdessen begann eine Amsel zu flöten, als sei eben der Frühling ausgebrochen. Theres wagte kaum, Christusfigur und Jungfrau Maria zu betrachten, denn sie erinnerte sich plötzlich an jede Einzelheit ihrer wahnsinnigen Freveltat, auch daran, wie sie alles besudelt, beschmutzt und malträtiert hatte. Doch da waren kein Fleckchen Schmutz auf dem bemalten Holz, kein Riss und keine Schrunde. Nur das kleine Stück am linken Fuß fehlte nach wie vor. Ganz offenbar war hier ein Wunder geschehen.
Mit scheuem Lächeln hob Theres die Fundstücke in die Luft, damit die Umstehenden sie sehen konnten. Die fielen sich jubelnd in die Arme darüber, dass die Prophezeiung sich erfüllt hatte, begannen zu tanzen und zu beten und zu singen, bis Patriz Seibold sie schließlich ermunterte, unter freiem Himmel, inmitten der Ödnis dieses einsamen Landstrichs, einen Dankgottesdienst zu zelebrieren.
Zwei Tage später waren sie unter Glockengeläut in Weissenau eingezogen. Vor viertausend staunenden Augenpaaren hatte Pfarrer Seibold anschließend von den wunderbaren Ereignissen berichtet und Kruzifix wie Bildnis herumgezeigt, draußen vor dem Kirchenportal, denn im Inneren von Peter und Paul wäre gar nicht ausreichend Platz gewesen. Da war Theres schon nicht mehr dabei, denn sie war bei ihrer Ankunft so erschöpft gewesen, dass sie zwei Tage im Bett verbringen musste, unter der Obhut von Pauline. Sie sollte zu Kräften kommen, denn es war ja noch die mühevolle Wallfahrt nach Maria Einsiedeln im finstern Wald zu meistern, weit weg im Schweizer Land.
Ihrer geschwächten Konstitution wegen hatten sie ab Friedrichshafendas Dampfboot
Kronprinz Wilhelm von Württemberg
bestiegen, das sie hinüber ans schweizerische Ufer bringen sollte. Ein Großteil der Bauern und Taglöhner hatte sich hier verabschiedet, da der halbe Gulden Fahrpreis für sie unerschwinglich war. Oder auch aus Furcht vor obrigkeitlicher Strafe, denn Wallfahrten ins Ausland waren neuerdings verboten.
Zwischen Frachtseglern und Ruderbooten schaufelte sich der Raddampfer voran über die dunkelblaue Wasserfläche. Seibold winkte den Zurückbleibenden zu, bis sie nur noch als dunkle Punkte am Kai zu sehen waren, während sich Theres mit beiden Händen an der Rehling festklammerte.
«Wenn das Boot nun untergeht, mitten auf dem See? Ich kann nicht schwimmen.»
Seibold lächelte. «Ich auch nicht. Aber ich denk mir einfach, dass die
Kronprinz
jeden Tag hier hin- und herfährt. Und jeden Tag sicher wieder anlegt. Das Boot kann nämlich im Gegensatz zu uns hervorragend schwimmen.»
Sein Gesicht wurde ernst.
«Wenn wir zurück sind von Einsiedeln – wirst du dann Weissenau verlassen?»
Da geschah etwas Überraschendes: Während sich ihre Blicke trafen, sah Theres in Patriz Seibold ganz plötzlich nicht mehr den Seelsorger und Beschützer, der er ihr bislang immer gewesen war, sondern den Mann – einen äußerst gutaussehenden obendrein. Ein Gefühl, das sie erschauern ließ, wogte in ihr auf.
«Ich weiß es noch nicht», hatte sie verwirrt geantwortet.
An diesem Abend des 20. Oktober, als sie auf dem Rückweg von Einsiedeln zu ihrer ersten Übernachtung einkehrten, fragte Patriz Seibold sie erneut. Er hatte sie zu einem kurzen Abendspaziergang zwischen den Obstwiesen überredet, während dieanderen Weissenauer Pilger bereits hungrig und durstig in der Schankstube saßen.
Theres sah zu Boden. «Ich möchte Ihnen und Ihrer Gemeinde nicht länger zur Last fallen. – Sie haben schon so viel für mich
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