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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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anderen Kinder schlaftrunken auf den Weg hinüber zu Sankt Martin machten, um an der Morgenmesse teilzunehmen, brachte der Hausknecht Urban sie in den Karzer, tief unten im Kellergeschoss. Der Einäugige trieb sie zur Eile an, denn er wollte rechtzeitig zur Übergabe der Reliquie in der Kirche sein.
    «Die Susanna bringt euch heut Mittag Brot und Wasser. Der Eimer da ist für die Notdurft. Weh euch, ihr macht irgendwelchen Unsinn. Dann könnt ihr noch drei Tage hier schmoren.»
    Sie hörten, wie er von außen den Riegel vor die schwere Holztür schob, dann entfernten sich seine Schritte. Fahles Morgenlicht fiel durch das winzige Fenster unter der Decke – gerade so viel, dass das Bettgestell mit dem Strohsack darauf und ein Eimer zu erkennen waren. Mehr gab es nicht in diesem modrigen, nach Urin stinkenden Verlies.
    «Was meint er mit Unsinn?» Theres stieß das Mädchen, das ganz rotgeweinte Augen hatte, in die Seite.
    «Wahrscheinlich hat er dabei an Urle gedacht.» Pauline schluckte. Ihr Gesicht war blass. «Als der das letzte Mal hier eingesperrt war, hat er auf den Boden geschissen und alles vollgebrunzt. Dafür hat er dann gehörig Dresche gekriegt und nochmal drei Tage Arrest und danach eine Woche lang halbe Kost.»
    «Der arme Urle. Und warum war er hier?»
    «Den Marder hat er nachgeäfft, hinter dem seinem Rücken. Wie der immer so komisch die Lippen über den spitzen Zähnen hochzieht, weißt doch. Die ganze Klasse hat gelacht, und da hat’s der Marder gemerkt.» Pauline hob den Kopf. «Hörst du’s?»
    Gedämpft, wie aus weiter Ferne, vernahm jetzt auch Theres den dunklen Glockenhall.
    «Das ist die Gloriosa.» Pauline ließ sich auf den Strohsack sinken. «Jetzt ziehn sie mit Kerzen und Fahnen vor den Heilig-Blut-Altar, die Ministranten, die Fahnenträger und der Herr Pfarrer. Der holt dann die Reliquie raus, nimmt sie vom goldbestickten roten Kissen und erteilt mit ihr den Segen. Das ist so feierlich, dass man weinen muss. Weißt du, ich muss dann immer dran denken, dass dadrin das Blut unseres Heilands ist, der für unsre Sünden am Kreuz gestorben ist.»
    Das Mädchen fing nun tatsächlich wieder zu weinen an.
    «Nächstes Mal bist du wieder dabei», versuchte Theres sie zu trösten. «Jetzt sag mir lieber, wie das Heilige Blut da reinkommt.»
    «Ein römischer Legionär hat’s aufgefangen, der heilige Longinus.» Pauline schnäuzte sich in den Ärmel. «Es ist nur ein Tropfen und mit der Erde von Golgatha vermischt. Irgendwer hat das dann in ein kostbares goldenes Gefäß getan und dem Kloster Weingarten geschenkt. So genau weiß ich das auch net mehr.»
    «Und es ist wirklich Blut von Jesus Christus?»
    Erschrocken starrte Pauline sie an. «Wie kannst du so was überhaupt fragen? Das ist das Heiligste, was es gibt!» Sie schloss die Augen, faltete die Hände und begann zu murmeln:
«Sei gegrüßt, o kostbares Blut, komme uns und den armen Seelen zugut   …»
    Theres schwieg. Das Glockengeläut war verstummt, und sie war plötzlich müde und traurig zugleich. Ihre Wut auf Rosina war längst verraucht.
    «Jetzet singen sie», flüsterte Pauline. «Man hört’s, weil nun das Kirchenportal geöffnet wird. Und draußen warten schon die Musikanten und Pilger.»
    Sie lauschten beide dem feierlichen Gesang, bis er mit einem Mal abbrach. Ein helles Glöckchen klingelte.
    «Und jetzt?» Auch Theres begann unwillkürlich zu flüstern.
    «Jetzt wird das Gefäß den Menschen gezeigt. Der ganze Kirchplatz, die ganze Treppe sind voller Menschen, Tausende Pilger kommen jedes Jahr, um das Heilige Blut zu sehen, von ganz weit her sogar. Jetzt sind sie zu Fuß, aber stell dir vor, vor langer Zeit kamen die meisten zu Pferd! Fünftausend Reiter und mehr waren es immer, sagt der Herr Pfarrer.»
    Theres sah sie ungläubig an. «Fünftausend Pferde? Aber die hatten doch gar keinen Platz hier in Altdorf!»
    «Wenn ich’s doch sag! Der Zug durch die Stadt und durch die Felder hatte gar kein End. Und das Heilig Blut hatte ein Schimmelreiter getragen, in blutrotem Samtumhang. Aber heutigen Tags ist das alles verboten, nur die Lanziergarde, die vorweggeht, darf noch zu Pferd sein.»
    In diesem Augenblick setzte Musik ein. Deutlich waren Trommeln und Pfeifen zu hören.
    «Das sind die Spielleute von der Grenadier- und Jägerkompagnie, mit ihrer schmucken blau-roten Uniform und dem hohen Tschako. Jetzt ziehn sie gleich stundenlang durch die Felder, die ganzen vielen Menschen, und singen und beten den Rosenkranz. Der Herr

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