Die Bettelprophetin
geistlichen Unterweisungen und Übungen mannigfach gerügt. Allerdings nicht wegen ungebührlichen Betragens, sondern für ihre mangelhafte religiöse Erziehung. Aber war es denn ihre Schuld, wenn sie die wenigsten dieser Sprüche und Psalmen, Hymnen und Gebete kannte? Nicht mal in die Kinderlehr hatte der Pflegevater sie gehen lassen. Hinzu kam, dass ihr aus unerfindlichem Grund all diese geistlichen Worte fremd blieben, gerade so, als ob sie gar nicht ihr galten. Schon in ihrer Dorfkirche hatte sie die Worte des Pfarrers nie verstanden, war nichts davon in sie gedrungen, außer, wenn es mit Donnergewalt um die menschlichen Sünden ging. Jetzt fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht tatsächlich ein wenig zu dumm für derlei Dinge war.
Dafür hatte sich ihre anfängliche Scheu vor der Herrlichkeit der Altdorfer Pfarrkirche bald gelegt. Theres begann, die Stunden in Sankt Martin regelrecht herbeizusehnen. Nicht etwa, weil sie hier ihre Ruhe vor der Stubenältesten hatte oder man ungestört sein Nickerchen verrichten konnte, sofern man nicht von einem der Aufpasser erwischt wurde. Nein, sie liebte den Kirchgang, weil sie damit den engen Fluren und den stickigen, ewig nach Schweiß und feuchtem Holz muffelnden Räumen der Anstalt für kurze Zeit entfliehen konnte. In Sankt Martin war alles so weit und hell und licht, fast wie draußen auf dem Feld, und mit viel Phantasie konnte sie sich den Weihrauchgeruch zum herben Duft von Wacholder und Wildkräuternumdenken. Hier vermochte sie frei zu atmen. Alle Ängste und Ärgernisse fielen von ihr ab, und sie stellte sich vor, dass der liebe Gott ihnen mit dieser Kirche einen Vorgeschmack auf den Himmel geben wollte.
Wenn dann noch von der rückwärtigen Empore der mächtige Klang der Orgel einsetzte, war Theres ganz bei sich und doch unendlich weit fort. Irgendwann begann sie in ebendiesen Momenten eine solch tröstliche Nähe zu Gott zu spüren, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb – eine Nähe, die kein Pfarrer jemals mit all seinen leeren Worthülsen zu schaffen vermocht hatte.
Ansonsten, das hatte Theres rasch begriffen, galt Müßiggang in der Anstalt von Weingarten als größte Sünde. Wurde nicht gebetet, dann wurde gearbeitet, wurde nicht gearbeitet, dann hielt man sie zum Lernen an. Kurzweil oder Recreation, wie es hier genannt wurde, gab es so gut wie nie, und wenn, dann bestand sie nicht im Fangespiel oder Verstecken, wie bei ihr auf dem Dorf, sondern im gesitteten Hofgang unter Aufsicht. So blieben als einzige Glanzlichter des Tages die Mittags- und Abendmahlzeiten: Da kamen wahrhaftig, bis auf den Freitag, jeden Mittag Fleisch, Wurst oder Speck auf den Tisch! Dazu wurde meist Kraut oder Rübengemüse gereicht, zuvor eine Brühe mit Einlage. Zu Abend dann Brot mit einem Brei aus Getreide oder Hülsenfrüchten und für die Älteren unter ihnen ein Krug Bier. Der Sonntag unterschied sich nur insofern, als die Tische mit weißen Tüchern sauber eingedeckt waren und es statt des dunklen Brotes knusprige, helle Kreuzerwecken gab – die Waisen hingegen bekamen angeblich noch Süßspeisen und feinen Braten an diesem Tag, aber für Theres war schon das, was sie täglich auf ihrem Teller fand, wie ein Ausflug ins Schlaraffenland. Eine solch üppige Kost hätte sie sich nie träumen lassen.
Doch leider waren diese Glücksmomente allzu kurz. Der Großteil des Tages verging in ermüdender Gleichförmigkeit, nur unterbrochen von Rügen und Tadeln seitens der Aufseher oder von den kleinen Bosheiten Rosinas. Mal schüttete diese wie aus Versehen von ihrem Bier über Theres’ Kleidung, mal lagen eklige Regenwürmer unter ihrer Bettdecke, oder das Nachthemd war klatschnass, als Theres es überziehen wollte. Doch um nichts in der Welt hätte sie die Stubenälteste verpetzt – denn damit, das ahnte sie, hätte sie nur noch Schlimmeres herausgefordert.
Nachdem die ersten beiden Wochen vorbei waren, stellte Theres fest, dass sie nicht einen einzigen Augenblick mit ihrer Freundin Sophie allein verbracht hatte, geschweige denn das Gelände des ehemaligen Klosters ein einziges Mal verlassen hätte. Und über die Nacht sperrte man sie sogar ein! Es war also doch wie in einem Gefängnis, auch wenn ihre Aufseher keine Lederpeitschen schwangen, sondern nur ihre kurzen Rohrstöckchen.
«Jetzt wart halt bis zum Blutfreitag, nächste Woche», hatte Sophie sie getröstet. «Da dürfen wir alle zusammen zur Prozession und danach auf den Blutfreitagsmarkt. Und im Sommer, an
Weitere Kostenlose Bücher