Die Bettelprophetin
Pfarrer mit den Ministranten geht unter einem weißen Baldachin und hält die Monstranz mit dem Heilig Blut hoch in der Hand, um den Segen zu spenden für Haus, Hof und Felder. Ganz feierlich ist das alles, erst recht, wenn sie dann wieder nach Altdorf zurückkommen. Da sind dann die Straßen und Häuser geschmückt, mit Fahnen und Standarten, und die Bürgersmänner tragen alle Frack und Zylinder.»
Sie seufzte, und Theres fürchtete schon, sie würde gleich wieder in Tränen ausbrechen, aber Pauline fuhr fort:
«Wenn dann alle wieder vor der Kirch angekommen sind,spendet der Herr Pfarrer den Schlusssegen über die Pilger. Hernach singen sie
Großer Gott, wir loben dich
und gehen wieder in die Messe. Danach ist Zeit zum Mittagessen, da ist dann der Tisch so reich gedeckt wie an einem Sonntag, sogar bei uns.» Pauline schluckte. «Und am End dürfen wir alle auf den Blutfreitagsmarkt – bis zum Abendläuten! Da gibt’s nicht nur Zuckerwaren und Geschirr, sondern auch tausend Dinge, wo das Bild der Reliquie drauf abgebildet ist. Na ja, und halt auch Drehorgelspieler und Guckkastenträger oder Tierführer. Einmal hatte einer einen echten, lebendigen Löwen dabei, stell dir vor!»
Pauline blickte Theres aus großen, unglücklichen Augen an. «Wollen wir beten?»
Theres nickte und bekreuzigte sich: «Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.»
Dann setzte sie sich neben das Mädchen auf den Strohsack, legte die Hände aneinander und schloss die Augen. Gemeinsam sprachen sie das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und das Ave Maria. Immer schwerer wurden Theres die Hände und Augenlider, ihr Kopf sank gegen Paulines Schulter. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Prozession, die sich wie eine endlose Schlange durch die sonnenbeschienenen Fluren wand, mit dem Pfarrer unterm Baldachin und den Ministranten in ihren weißen Chorhemden über dem roten Talar, mit den Massen von Pilgern, die ihnen folgten, sie selbst mit ihrem Bruder mittendrin – als sich plötzlich ein Gesicht vor ihr Auge schob: das zarte, traurige Gesicht einer jungen Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte und von der sie doch wusste, dass es ihre Mutter war. Im nächsten Moment sank ihr Oberkörper auf das Bettlager, und sie war eingeschlafen.
Sie erwachte vom Klang der Glocken, die die Gläubigen zur Mittagsmesse riefen. Neben ihr lag Pauline, mit tränennassemGesicht, und starrte vor sich hin. Theres berührte ihre Wange.
«Jetzt wein doch nicht mehr.»
«Es ist nicht nur wegen dem Blutfreitag. Ich hab immer solche Angst in der Nacht. Und wenn ich dann – wenn ich dann ins Bett gemacht hab, straft mich die Wagnerin. Dann hab ich noch mehr Angst.»
«Hör mal, Pauline.» Das Mädchen tat ihr leid. «Das gestern Abend, das war gar kein Gespenst. Das war die Rosina.»
«Wirklich?»
«Ja. Die wollte mich erschrecken.»
«Aber – aber dann müsst doch die Rosina Arrest kriegen. Warum hast das nicht der Wagnerin erzählt?»
«Weil ich auch manchmal Angst hab. Vor der Rosina zum Beispiel.»
Sie schwiegen eine Zeit lang. Schließlich flüsterte Pauline: «Die Rosina ist bald weg. Dann brauchst keine Angst mehr zu haben. Die ist nämlich bald vierzehn und muss in den Gesindedienst. Alle gehen hier weg nach der Konfirmation oder Firmung.»
Plötzlich richtete Pauline sich auf.
«Ich hab gesehen, wie du gestern im Hof auf die Rosina losgegangen bist. So mutig möcht ich auch mal sein!»
Der Rest des Tages verging quälend langsam. Nachdem die Hausmagd ihnen trocken Brot und Wasser gebracht hatte, geschah gar nichts mehr. Kein Laut drang mehr zu ihnen, die gesamte Waisenanstalt schien ausgestorben. Einmal nur verirrte sich eine Ratte in ihre Arrestzelle, packte einen Brotkrümel und verschwand wieder unter dem Türspalt. Gegen Abend, als sie kaum noch ihre Umrisse erkennen konnten, fragte Pauline: «Darf ich deine Freundin sein?»
Theres zögerte. «Ich – ich hab schon die Sophie als Freundin.»
«Dann vielleicht, wenn ihr mal Streit habt?»
Ehe Theres etwas erwidern konnte, wurde von draußen der Riegel zurückgeschoben, und der Knecht trat ein, mit einer Lampe in der Hand. Zu ihrem großen Erstaunen war er nicht allein.
«Los, rein mit dir.»
Mit seiner freien Hand zerrte er Rosina hinter sich her. Ihr Gesicht war verquollen, und sie humpelte. Urban leuchtete die Zelle aus, warf einen prüfenden Blick in den Eimer und knurrte:
«Ihr zwei könnt wieder raus.»
Auf dem Weg in den Schlafsaal fragte Theres: «Warum ist
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