Die Bettelprophetin
aufhelfen und sie hinausführen, so sehr schmerzten ihre blutunterlaufenen Kniescheiben.
Nach diesem Zwischenfall machte Urle sein Versprechen wahr und lehrte sie, wann immer sich die seltene Gelegenheit ergab, wie man die Buchstaben zu Silben und die Silben zu Wörtern zusammenzog. Dazu malte er mit dem Finger oder einem Stöckchen irgendwelche Wörter in Sand, Staub oder Erde, wie und wo es sich gerade ergab.
«Du musst lernen, die Silben und Wörter als ganze Bilder zu erkennen. Dann kannst du lesen, ohne zu stocken», riet er ihr.
Als schließlich die Hundstage mit ihrer schwülen Hitze einsetzten, vermochte sie tatsächlich aus den vormals wirren Linien und Schnörkeln ohne großes Zögern den Sinn von Wörtern zu erkennen. Es war wie ein Wunder!
Doch leider gab der Marder ihr keine Gelegenheit mehr, ihr Können zu beweisen. Ihm war nicht entgangen, wer ihr Lesen und Schreiben beibrachte, und wie zur Strafe behandelte er sie in seinen Schulstunden nun erst recht wie Luft. Ohnehin zeigte er in diesen Sommertagen täglich weniger Neigung, seiner Klasse etwas beizubringen. Oftmals kam er zu spät oder entließ die Schüler vorzeitig und ohne sie zu beaufsichtigen in den Hof. Dann wiederum befahl er ihnen, als stille Übung ein Kapitel aus der Bibel zu lesen, verschanzte sich hinter seinem Bücherstapel am Pult und schloss die Augen – bis sein Schnarchenverriet, dass er eingeschlafen war! Einmal hatte sich Urle in einer solchen Situation erhoben und mit tiefer Stimme, die ganz verblüffend der des Oberinspektors glich, gerufen:
«Guten Morgen, ihr Kinder!»
Wie von einer Hornisse gestochen war der Marder da aufgesprungen, hatte mit seinen wässrig-grauen Augen um sich gestiert und, als er seinen Vorgesetzten nirgends entdecken konnte, gebrüllt: «Wer war das?»
Alle hatten sie geschwiegen, und selbst Jodok hatte nicht gewagt, seinen Banknachbarn zu verraten.
Vielleicht lag es daran, dass der Oberinspektor immer häufiger aushäusig war, unterwegs auf irgendwelchen Bürgerversammlungen im Oberamt oder in der Donaukreisstadt Ulm, und dass sein Vertreter, Ökonomieverwalter Heintz, sich nur für seine Rechnungsbücher interessierte – jedenfalls bröckelte die gestrenge Ordnung ihres Tagesablaufs mehr und mehr. Es ging das Gerücht, dass Löblich unten im Flecken Privatstunden bei jungen Mädchen gab, und das nicht nur, um sein Salär aufzubessern. Die Wagnerin wiederum hielt sich mehr bei den Küchenweibern auf, als dass sie in der unterrichtsfreien Zeit ihren Aufgaben als Hausmutter nachkam. Für die Vagantenzöglinge boten sich damit unverhoffte Freiheiten. Plötzlich konnten sie ohne Aufsicht im Hof herumtoben – zumindest so lange, bis von der anderen Hofseite her die Aufseher der Waisenkinder herbeigeeilt kamen – oder bei der Gartenarbeit ungestört schwatzen, weil die Wagnerin im Schatten der Kirschbäume döste oder mit irgendwelchen Mägden tratschte. Einmal hatte Urle nach dem Mittagessen Theres beiseitegenommen, mit triumphierendem Blick und einem rostigen Schlüssel in der Faust.
«Den hat der Marder auf seinem Pult vergessen. Es ist der Schlüssel zur Lehrerbibliothek», hatte er geflüstert und sie hintersich hergezogen, bis sie vor der schweren Eichenholztür der Bibliothek standen. Der lange Flur war menschenleer, und so konnten sie unbemerkt aufsperren und sich hineinschleichen. Mitten auf der Schwelle war Theres mit offenem Mund stehengeblieben.
«Das sind ja Aberhunderte von Büchern, die ganzen Wände voll», stieß sie hervor. «Und wie das hier nach Leder riecht!»
Urle trat an ein Eckregal. «Da stehen meine Lieblingsbücher. Lauter Reiseberichte.»
«Warst du etwa schon öfters hier?»
Statt einer Antwort grinste Urle nur. Er zog einen der Bände heraus.
Reise um die Welt
, entzifferte Theres die goldenen, ins Leder gestanzten Lettern.
Von Johann Georg Adam Forster
.
«Wollen wir drin lesen?», fragte Urle, und sie nickte heftig. Doch kaum hatten sie das Buch auf das Lesepult gelegt und aufgeschlagen, als Stimmen vom Gang her sie auffahren ließen.
«Bloß weg hier!», zischte Urle. Sie rannten hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und schafften es eben noch, sich in einer Mauernische zu verstecken, als die Wagnerin mit der Köchin um die Ecke bog.
«Na so was! Da steht doch die Tür zur Bibliothek offen!» Die Worte der Wagnerin kamen reichlich genuschelt über ihre Zunge, ganz so, als hätte sie zu Mittag ein Quäntchen zu viel Wein genossen.
«Hallo? Ist
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