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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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die Rosina in Arrest?»
    «Das geht dich nix an!», antwortete der Knecht barsch.
    Von Sophie erfuhr sie wenig später den Grund: Die Stubenälteste hatte auf dem Krämermarkt einen Armreif aus falschem Silber gestohlen und war dabei erwischt worden. Eine gehörige Tracht Prügel und drei Tage Arrest hatte ihr das eingebracht.
    Dann gibt es also doch noch Gerechtigkeit, dachte Theres beim Einschlafen. Und noch etwas Tröstliches war geschehen: Sophie hatte sie um Verzeihung gebeten, dafür, dass sie zu feige gewesen war, ihr Rosinas Plan mit der Spukgeschichte zu verraten.

4
    Waisenhaus Weingarten, Sommer 1832
    Die nächsten Wochen verliefen im strikt geregelten Ablauf des Alltags, und dennoch spürte Theres, wie sich etwas veränderte: Sie hatte begonnen, sich an das Leben im Vagantenkinderinstitut zu gewöhnen und die allerkleinsten Abwechslungen und Freuden zu genießen. Dazu gehörten die Unterhaltungen mit Sophie beim Hofgang oder, im Flüsterton dann, abends vor dem Einschlafen. Und natürlich, neben den Mahlzeiten, die wenigen Stunden im Garten, wo sie mit Urle zusammenkam. Bald kannte sie auch die Texte der täglichen Lieder und Gebete und leierte sie herunter wie die anderen Kinder auch, ohne sich dabei noch irgendwas zu denken. «Nichts als geistloses Hinterherplappern», hatte Urle einmal über die täglichen Andachten gescholten. «Da wird doch alles religiöse Gefühl erstickt.»
    Dabei waren die katechetischen Übungen und Bibelstunden beim dicken Fritz gefürchtet. Nicht nur, weil man hier dem Spott und der Häme der anwesenden Waisenkinder ausgesetzt war, sondern weil der Oberinspektor keineswegs so gutmütig war, wie er anfangs auf Theres den Eindruck gemacht hatte. Wer nicht die richtige Antwort wusste, wurde meist am Ende der Stunde ein zweites Mal examiniert. War die Antwort wiederum falsch, gab es schmerzhafte Tatzen auf die ausgestreckte Hand. Dabei lächelte der Anstaltsleiter sein gütiges Lächeln. Theres, als immer noch neuem Zögling, schien er eine Schonfrist zu gewähren, und somit gab sie sich alle Mühe, bei den Prüfungsfragen aufzupassen.
    Auch von Rosina wurde sie erstaunlicherweise seit ihrer Arreststrafe am Blutfreitag in Frieden gelassen. Es schien, als habe die Stubenälteste das Interesse an ihr verloren. Dafür hing nun das Zwillingsmädchen an Theres’ Rockzipfel. Offen zeigte Paulineihre Bewunderung für die um zwei Jahre Ältere, schenkte ihr beim Abendessen mal ein Stückchen Brot oder legte ihr eine Blüte aufs Kopfkissen. Das ging so lange, bis Sophie ihr eines Tages eine Maulschelle verpasste: «Lass die Theres in Ruh. Die ist meine Freundin!»
    Obwohl Pauline ihr leidtat, hatte Theres’ Herz bei diesem Satz einen kleinen Sprung vor Freude gemacht.
    Bis Ende Juni mühte sich Theres unter dem gestrengen Blick von Lehrer Löblich mit ihren Schreibübungen im Abc ab, dann hatte sie es geschafft: Sie war beim ‹Z› angelangt. Gleich am nächsten Morgen hatte der Marder sie vor die Tafel beordert und dort mit schwungvollen Buchstaben ein Wort aufgeschrieben.
    «Buchstabiere!», befahl er.
    «Ein T – ein H – und dann   …» Sie stockte, sah abwechselnd zur Schrifttafel, die linker Hand an der Wand hing, dann wieder auf das Wort vor ihr und spürte, wie ihr heiß und kalt wurde. Die Buchstaben des Marders sahen ganz anders aus als die an der Wand, viel spitzer und irgendwie, als ob ein Sturmwind von links nach rechts über sie hinweggetobt wäre. Jetzt begannen sie auch noch, vor ihren Augen zu verschwimmen. Dabei war sie sich ganz sicher gewesen, jeden einzelnen Buchstaben zu erkennen und schreiben zu können.
    «Wird’s bald?»
    «Ein R?», fragte sie verunsichert.
    «Hab ich recht gehört?» Löblich fuhr sich durch das strähnige Haar. «Hast du’s etwa immer noch nicht begriffen? Das ist dein eigener Name! Gütiger Gott im Himmel – vier Wochen pädagogischer Mühe umsonst! Das ist ein E, und dann kommt ein R!»
    Dabei rollte ihm der letzte Buchstabe wie Donnergrollen aus dem Rachen, und sein Zwirbelbart begann zu zittern.
    «Aber   –» Theres holte Luft. «Das sieht alles so anders aus als drüben auf der Schrifttafel.»
    «Du wagst es tatsächlich, meine Schrift zu bekritteln? Finger her!»
    Drei harte Schläge gegen die Finger der rechten Hand, drei gegen die der linken trieben ihr die Tränen in die Augen. Für den Rest des Unterrichts ließ Löblich sie auf dem Kniescheit knien, einem dreieckig angespitzten Holzstück. Sophie musste ihr am Ende

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