Die Bettelprophetin
endlich kam und sie hinausließ. Unwillkürlich nahm sie den gleichen Weg, den sie gekommen war, die Lunge stach ihr längst, doch sie rannte immer noch weiter, durch den Wald den Berg hinauf, bis ihre Beine nicht mehr wollten. Vor ihr öffnete sich der Wald zu der kargen Heidelandschaft der Alb, mitten durch die Hügel schlängelte sich das schmale Sträßchen in Richtung Eglingen. Wie eine Betrunkene taumelte sie vom Weg ab, rutschte einen Hang hinunter und brach endlich schwer atmend zusammen.
Als Theres den Kopf hob, zog mit einem letzten Feuerschein im Westen der Nachthimmel über ihr auf. Der Heideboden war noch warm von der Tageshitze, und sie war drauf und dran, wieder einzuschlafen. Dann aber brach mit schmerzhafter Wucht über sie herein, was sie in Zwiefalten erlebt hatte. Sieschluchzte auf, als sie die Gestalt der tobenden alten Frau wieder vor Augen hatte. Hätte sie nur auf Hannes gehört!
«Was soll ich tun? Was soll ich tun?», flüsterte sie immer wieder vor sich hin. Wenige Schritte von ihr entfernt lag ihr Reisesack, mit dem Vermächtnis ihrer Mutter darin. Sie könnte es einfach dort liegen lassen, auf dieser Wiese mitten in der Einsamkeit der Alb, und sich dann in Zwiefalten einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Oder aber weitermarschieren zu Hannes und ihm das Kruzifix überbringen, denn es war hell genug: Ein runder Mond hatte sich über eine Reihe von Bäumen geschoben und tauchte die kahlen Hügel in silbriges Licht. Nur die Wacholderbüsche standen schwarz und starr wie reglose Wächter.
«Was soll ich tun?», murmelte sie erneut, während sie sich erhob. «Lieber Gott, was soll ich tun?», rief sie plötzlich mit lauter Stimme in die nächtliche Stille hinein. «Sag es mir, lieber Gott! Du hast meine Mutter zur Irren gemacht. Darum hilf mir jetzt auch!»
Sie warf den Kopf in den Nacken und begann, sich um die eigene Achse zu drehen, bis die Sterne über ihr sich vom Himmelszelt lösten und zu tanzen begannen.
«Zeig dich mir, wenn es dich gibt!»
Doch Gott gab ihr kein Zeichen. Stille und Einsamkeit um sie herum waren grenzenlos. Nicht einmal der Schrei eines Käuzchens vom nahen Wald her war zu hören. Mit Schwindel im Kopf sank sie in die Knie und zerrte das Wolltuch aus ihrem Beutel. Hell leuchtete ihr das Gesicht der Mutter Gottes im Mondlicht entgegen, mit einem Lächeln, das sie zu verhöhnen schien.
«Du lachst mich aus? Weil ich so dumm war? Warte!»
Sie schlug mit dem angeblich gesalbten Stöckchen auf das Bildnis.
«Siehst du, was ich mache, du Herr dort droben im Himmel?Siehst du es?» Sie schlug erneut. Ein Streifen heller Farbe auf Marias Stirn platzte auf. Dann nahm sie sich den Gekreuzigten vor. «Und hier dein Sohn, dein verkrüppelter Sohn. Die Zehen wurden ihm abgehauen, genau wie beim Hannes. Da! Und da!»
Beim nächsten Hieb zersprang das Stöckchen in zwei Teile, und Theres heulte auf.
«O nein, ich hab keine Angst vor dir, meinem Gott. Weil es dich nämlich gar nicht gibt. Und wenn es dich gibt, dann erschlag mich jetzt. Schlag mich einfach tot.»
Sie warf sich über das geschundene Erbe ihrer Mutter und heulte und schluchzte, dass es sie schüttelte. Als die Tränen versiegten, lag sie immer noch so da, unbehelligt von Gottes Zorn. Genau wie damals, in der Arrestzelle. War sie für Gott so unbedeutend, dass sie gegen ihn fluchen und zürnen konnte, wie sie wollte?
Kruzifix und Bildnis waren dreckverschmiert, und der Anblick ekelte sie, wie sie sich vor sich selbst ekelte. Nein, sie würde nicht zu Hannes zurück, sie würde das alles hier vergraben. Suchend sah sie sich um, als ihr Blick auf eine Matte von Heidekraut fiel. Dort riss sie zwei, drei Büschel aus und grub mit bloßen Händen im Boden. Die Nägel brachen ihr dabei, endlich schien ihr das Loch tief genug. Dann holte sie das Wolltuch, kippte seinen Inhalt hinein und warf das Tuch in hohem Bogen von sich. Mit ihren Schuhen scharrte sie die Erde zurück ins Loch und trat sie fest. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde sie ruhiger. Sie beschloss, alles, was sie in den letzten zwei Tagen erlebt und erfahren hatte, zu vergessen. Alles, auch ihre Mutter.
Wie eine Traumwandlerin kehrte sie zurück auf den Weg, marschierte noch ein Stück weit in Richtung Zwiefalten, bis sie denWaldrand erreichte. Dort legte sie sich neben einen Holzstoß ins Gras, schloss die Augen und wartete. Vielleicht würde sie ja ein Wegelagerer entdecken und erschlagen – dann wenigstens hatte alles ein
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