Die Bettelprophetin
Ende.
Einige Stunden musste sie da gelegen haben, in einem Zustand, der weder Schlafen noch Wachsein bedeutete, als ein «Jesses-Maria-und-Josef!» sie aufschreckte. Sie öffnete die Augen und fand über sich das erschrockene Gesicht einer Bauersfrau. Die bekreuzigte sich jetzt mit einem lauten Schnaufen. Hinter ihr schimmerte rosafarben der Morgenhimmel.
«Ich dacht schon, du wärst eine Leich! Was hams denn mit dir g’macht?»
Mühsam kam Theres wieder auf die Beine. «Gar nix. Hab mich verlaufen und bin eingeschlafen.»
«Dann bist gar net verletzt?»
«Nein.»
«Aber sag bloß – wo g’hörst denn hin? Doch net etwa in die Anstalt?»
Theres schüttelte heftig den Kopf. «Ich bin aus Biberach, muss zur Poststation.»
«Dann aber schnell. Mit viel Glück erreichst noch die Morgenkutsche.»
10
Im Pfarrhaus bei Biberach, Juli bis Herbst 1838
«Gütiger Herr im Himmel! Die ganze Nacht hab ich nicht geschlafen. Fast hätt ich dir einen Polizeidiener hinterhergeschickt!» Pfarrer Konzet war außer sich. «Wo also hast du gesteckt? Mach endlich den Mund auf!»
Theres presste die Lippen zusammen.
«Warst du etwa gar nicht bei deinem Bruder? Steckt da ein Kerl dahinter? Na warte, ich werd dich schon zum Reden bringen.»
Sie schwieg auch dann noch, als Pfarrer Konzet den Rohrstock, den er immer mit in die Schule nahm, vom Fenstersims holte und ihr befahl: «Hinknien! Auf die Gebetsbank!»
Der erste Schlag brannte wie Feuer. Erstaunt stellte Theres fest, dass der Schmerz guttat. Als die Schläge rasch immer kraftloser wurden und Konzet den Stecken schließlich in die Ecke schleuderte, war sie fast enttäuscht.
«Ab in deine Kammer! Ich will dich für heute nicht mehr sehen. Das Abendessen ist auch gestrichen.»
Zur Strafe musste sie die nächsten Tage ihre Mahlzeiten allein in der Küche einnehmen. Einen größeren Gefallen hätte ihr Dienstherr ihr gar nicht erweisen können. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er sie auch in den Hühnerstall sperren können, bei Wasser und Brot. Hauptsache, sie war allein, musste mit niemandem reden, konnte sich ihrer dumpfen Teilnahmslosigkeit überlassen.
Einige Wochen später, der Sommer ging schon dem Ende zu, traf Post für sie ein: ein langer Brief von Sophie, der erste seit ihrem Abschied! Theres hatte ihr bereits zweimal nach Tettnang geschrieben, einmal ganz zu Anfang, im Frühjahr, dann noch einmal kurz vor ihrer Reise auf die Alb. Doch Antwort hatte sie bislang nie bekommen, und fast hatte sie sich damit abgefunden, dass das Schicksal sie für immer auseinandergerissen hatte.
Es war ein Montagabend und der Pfarrer wie üblich zum Stammtisch im Adler verabredet, als er ihr beim Hinausgehen den Umschlag überreichte. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr von Zwiefalten spürte Theres wieder einen Funken Lebenin sich. Sie beeilte sich, Küche und Stube aufzuräumen, setzte sich dann an den Küchentisch und riss voller Ungeduld den Umschlag auf. Tiefrote Blütenblätter rieselten ihr entgegen, mit dem süßen Duft nach Rosen. Sie lächelte voller Rührung, zugleich schossen ihr die Freudentränen in die Augen.
Liebste Freundin, die Blüten sind von meiner Lieblingsrose im Garten. Die blüht nun schon seit Juni den ganzen Sommer durch. Die sollen dich besänftigen, falls du bös auf mich bist. Ich weiß ja, ich hätt längst schreiben sollen. Aber es ist alles so aufregend hier. Und viel zu tun hab ich auch. Ist es immer noch so öd bei dir im Pfarrhof? Ich glaub fast, ich hab es besser getroffen. Hier im Haus herrscht immer Trubel. Mein Dienstherr ist ja ein reicher Kaufmann, eine kleine und eine große Tochter hat er und zwei Söhne. Und die Herrin empfängt fast täglich eine Gesellschaft zum Tee. Da braucht es natürlich fleißiges Dienstpersonal. Zum Glück bin ich nicht allein. Es gibt noch eine Kindsmagd und eine Köchin außer mir. Leider sind sie beide dumm und stockhässlich.
Ja, Theres, was soll ich sagen? Ich arbeit mich nicht grad tot, und die meisten Leut sind freundlich zu mir. Vor allem die Männer! Jetzt sag ich dir was unter Freundinnen: Bei den jungen Herren sind einige ganz schmucke Burschen drunter. Da würdest Augen machen! Die müssen bei der Hausherrin und ihrer Tochter immer ganz anständig tun. Aber bei mir sind sie dafür umso lustiger. Einige von denen würden mir am liebsten an den Rock gehen, das kannst mir glauben. Das hat aber auch sein Gutes. Bevor du ihnen auf die Finger haust, lässt dich ein bissle verwöhnen. Hab
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