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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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hervor.
    «Wann hast du deine Mutter zuletzt gesehen?»
    Theres wollte antworten, aber sie brachte kein Wort heraus. Die Frau seufzte. «Vielleicht wärst du besser gar nicht gekommen.»
    Dann sperrte sie die Tür auf, und Theres folgte ihr im Schutz ihrer breiten Schultern in den Raum, der schlauchartig auf ein Gitterfenster zuführte. Bett, Tisch und Holzschemel waren im Boden verankert, die grobverputzten Wände kahl bis auf einengekreuzigten Heiland, vom unbenutzten Bett hingen Ledergurte herunter. Ringe mit Ketten konnte Theres keine entdecken. Überhaupt: Die Zelle schien leer.
    «Steh auf, Bronnerin. Deine Tochter ist da.»
    Schwester Barbara schloss die Tür hinter sich, und jetzt erst entdeckte Theres das Weib, das in der Ecke auf dem kalten Ziegelboden kauerte und den Kopf in den Armen vergraben hielt. Als die Frau aufsah, unterdrückte Theres einen Schrei: Das faltige, ledrige Gesicht einer Greisin, mit blutunterlaufenen Augen und ungekämmtem, grauem Haar, das ihr in Strähnen ins Gesicht fiel, stierte sie an. Über die linke Wange zog sich eine hässliche violette Narbe.
    «Das ist nicht meine Mutter», stieß Theres hervor.
    Die Fremde begann schrill zu lachen.
    «Genau! Wer soll das sein? Ich hab keine Tochter.»
    «Und wer hat mir erst letzte Woche wieder von der kleinen Theres vorgeheult, die der böse Mann mitgenommen hat? Los jetzt, steh auf.»
    Schwester Barbara zerrte sie in die Höhe und verfrachtete sie in Richtung Bett.
    «Da bleib sitzen. Und du, Theres, hock dich auf den Schemel.»
    So sehr ihr grauste, so konnte Theres doch nicht die Augen lassen von dieser Frau, die aussah, als sei sie siebzig. Stumm starrte sie sie an, ohne etwas herauszubringen.
    «Was glotzt die mich so an? Bin ich ein Affe?», fragte die, die ihre Mutter sein sollte, die Krankenwärterin neben sich.
    «Lass sie schauen und sei still», antwortete Schwester Barbara, weniger streng jetzt als vielmehr sanft, und legte ihre Hand auf die der Kranken.
    Nach und nach schlug Theres’ Herz ruhiger, der beklemmende Druck um ihre Brust löste sich und ließ sie wiederfrei atmen. Ihr Blick glitt über das alte, geschundene Gesicht, wieder und wieder, bis sie mit einem Mal fand, wonach sie gesucht hatte. Ganz deutlich erkannte sie plötzlich ihren Bruder in diesen Zügen, wenn er, genau wie ihr Gegenüber jetzt, in trotzig-herausfordernder Manier die Stirn zusammenzog und dabei die Lippen schürzte. Schmal und feingeschnitten war dieses Gesicht, und was ihr jetzt ungekämmt vom Kopf hing, mussten einst dichte, dunkle Locken gewesen sein, so dunkel wie diese Augen.
    «Mutter?»
    Die Tränen schossen ihr in die Augen und ließen das Gesicht vor ihr verschwimmen zu dem einer jungen Frau, die lachte und lebte und Spaß mit ihren Freundinnen hatte.
    Verlegen wischte Theres sich die Tränen ab. Maria Bronner lächelte tatsächlich.
    «So bist du endlich heimgekommen, meine kleine Theres.» Ihre Stimme klang heiser. «Heim zu deiner Mutter.»
    Theres nickte heftig und streckte ihr die Hände entgegen. Auch die Hände ihrer Mutter waren schmal. Sie sahen so viel jünger aus als ihr Gesicht und lagen jetzt warm in ihren.
    «Hab dich niemals weggeben wollen, niemals. Auch nicht den Hannes, meinen lieben Jungen. Die bösen Männer hatten mich ins Arbeitshaus geschafft und euch für immer von mir genommen. Für immer und alle Zeiten. Ich hab euch nie wiedergesehn.»
    «Der Hannes war hier, Mutter.»
    «Nein, nein, nein! Mein kleiner Bub war nicht hier.»
    Theres sah hilflos auf die Krankenwärterin. Die schüttelte fast unmerklich den Kopf, als wolle sie sie warnen weiterzubohren.
    Nach einem Moment des Zögerns bat Theres: «Bitte erzähl mir von dir.»
    «Sag bloß – was willst denn wissen? Ich hab nix Schönes erlebt.» Sie schien nachzudenken. «Einmal, nach dem Tod meines Jakob, hatt ich nach Russisch-Polen auswandern wollen. Hatte vom Münsinger Oberamt sogar die Papiere dafür, weil ich ja eine arme Sau war und die feinen Herren nur Geld kosten würd. Da warst noch nicht auf der Welt, nur der kleine Hannes. Bin dann aber bloß bis Ulm gekommen.» Ihre Sätze kamen nun rasch nacheinander. Ohne Atem zu holen, reihte sie einen an den andern. Dabei war ihre Stimme erstaunlich ruhig.
    «Da hat man mich nämlich nicht aufs Russenschiff gelassen, obwohl ich den Auswanderer-Pass hatte. Aber halt nicht genug Reisegeld. Ist das nicht zum Lachen? Die Württemberger wollten mich loswerden, die Russen wollten mich nicht haben. Die Ulmer haben

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