Die Bettelprophetin
schon ein Seidentüchlein geschenkt bekommen, ein zierliches Halskettchen und Naschwerk ohne Ende. Ich muss dann jedes Mal an dich denken. Wie du da so eingesperrt hockst mit deinem grätigen Pfaffen
und deiner stummen Kochmamsell. Und erlebst so gar nix Schönes. Weißt was? Lass doch deinen Pfarrer sitzen und such dir eine Stellung in der Stadt! Tettnang ist zwar klein, aber ich kann ja mal die Ohren aufsperren. Oder du gehst nach Ravensburg, zur Base von meiner Herrin. Die Schönfärbers sind auch Kaufleute und suchen grad wieder eine Stubenmagd. Stell dir nur mal vor: Da könnten wir uns jeden Sonntag sehen! Nach Ravensburg sind’s nämlich bloß zwei Wegstunden, wenn man stramm marschiert. Wir könnten uns auf halbem Weg treffen.
Jetzt schreib mir nur recht bald zurück, damit ich weiß, ob ich mich umhören soll für dich. Glaub mir, ein Bürgerhaushalt ist für ein junges Mädle allemal besser als ein katholischer Pfarrhof. Also, überleg es dir. Oder gibt’s gar schon einen Kerl im Dorf, der dir gefällt?
Es umarmt dich ganz innig deine auf immer beste Freundin
Sophie!
Eine Träne tropfte auf das Papier und ließ die Buchstaben der letzten Wörter verschwimmen. Glücklich und traurig zugleich stimmten Theres die Zeilen ihrer Freundin. Wie gerne wäre sie in Sophies Nähe, aber sie konnte und wollte nicht den Vertrag brechen. Nicht, wo Oberinspektor Rieke doch so große Stücke auf sie hielt. Zwei Jahre würde sie schon durchhalten müssen – und jetzt hatte sie noch nicht mal ein halbes hinter sich.
Sie seufzte. Gleich morgen würde sie Konzet um Papier und Tinte bitten. Wenigstens hatte der Pfarrer sich wieder beruhigt nach dem «infamen Vertrauensbruch», wie er es genannt hatte. Vergangenen Sonntag hatte er ihr nochmal einen langen Vortrag gehalten, dass so etwas nie wieder vorkommen dürfe und dass er bis zu dem Zwischenfall eigentlich überlegt habe, sie beim landwirtschaftlichen Bezirksfest im Herbst für den Ehrenpreisder Dienstmägde vorzuschlagen. Nun allerdings werde sie sich, sofern sie sich gut betrage, auf das nächste Jahr gedulden müssen. Sie hatte bei diesen Worten brav genickt. Innerlich jedoch dachte sie bei sich, dass sie gut darauf verzichten konnte. Hatte sie doch gehört, dass diese Art von Ehrungen in der gleichen Gruppe mit den Viehprämierungen vonstatten ging. Dennoch war sie erleichtert, dass Konzet wieder versöhnlich gestimmt war.
Am nächsten Tag suchte sie den Pfarrer in seiner Studierstube auf, um ihn nach den Schreibutensilien zu fragen. Sein allerheiligstes Zimmer war in der Regel verschlossen, und nur in seinem Beisein durfte sie dort kehren und staubwischen. Sie betrat den kleinen, viereckigen Raum immer in einer Mischung aus Ehrfurcht und Unbehagen, denn alles darin verriet Bildung und vergeistigte Arbeit. Neben dem Fenster befand sich ein dunkel gebeizter Schreibsekretär, dessen Aufsatz mit zahlreichen Schüben und Fächern versehen war; davor, auf der Schreibplatte, standen Briefbeschwerer, Federkiele und Tintenfass und jenes Wunderding, dass Theres jedes Mal aufs Neue bewunderte: ein Tischglobus, der die ganze Welt zeigte. Die Wand links des Sekretärs verschwand vollständig hinter endlosen Reihen von Büchern. Die meisten waren in Leder gebunden, einige hatten sogar goldene Blattkanten. Neben Werken wie der Heiligen Schrift, dem Canisius, mehreren Beicht- und Gebetsbüchlein oder christlichen Erbauungsschriften hatte Theres auch Reisebeschreibungen sowie Werke von Menschen entdeckt, die Goethe und Lessing hießen, Fichte und Kant – alles Namen, die Theres nie zuvor gehört hatte. Die Wandseite gegenüber war mit einer Bildertapete bespannt, die Szenen aus Altem und Neuem Testament zeigten. Manchmal verlor sich Theres so sehr in der Betrachtung der Zeichnungen, dass sie darüberdas Putzen vergaß. Dabei legte Konzet in seiner Studierstube, anders als sonst, höchsten Wert auf Reinlichkeit. Jedes Ding hatte seinen Platz und durfte nicht verrückt werden.
Als Theres an diesem Morgen, mit Besen und Wedel bewaffnet, anklopfte, saß er wie üblich an den letzten Vorbereitungen für seine Schulstunde. Üblicherweise unterbrach er seine Arbeit, sobald sie eintrat, lehnte sich in seinem gepolsterten Stuhl zurück und schloss die Augen, während sie putzte. Heute allerdings war er so versunken in seine Arbeit, dass er nicht einmal aufsah. Stattdessen sprach er halblaut vor sich hin:
«Ad 1: Grüßet den Lehrer beim Eintritt in die Schule oder saget den
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