Die Beute
sein. Natürlich.«
»Das Gleiche gilt für dich, Zach«, sagte Michael und drehte sich zu ihm um. »Nur dass es bei dir eine hypnagogische Halluzination war – du hast gedacht, du würdest noch nicht schlafen, aber dein Gehirn war bereits im Land der Träume.«
Zach erwiderte nichts.
»Und was ist mit mir?«, fragte Audrey. »Ich habe geschlafen – aber als ich aufwachte, war mein Traum wahr.« Ihre lackierten Fingernägel wanderten zu ihrem Nacken, direkt unter den glatten kupferfarbenen französischen Zopf. »Ich war nass .«
»Schweiß«, sagte Michael prompt.
»Ich schwitze nicht.«
»Na, dann eben damenhafte Transpiration. Es war heiß.«
Jenny betrachtete ihre Clique auf dem Hügel. Alle klangen so vernünftig und ruhig. Aber Michaels Grinsen war angespannt und Zach war bleicher denn je. Dees nervöse Energie glich einem elektrischen Feld. Audrey hatte die Lippen zusammengepresst.
Trotz der lässigen Worte waren sie ängstlich.
Und wo ist Tom?, dachte Jenny. Er sollte hier sein. Ganz gleich was er von mir denkt, er sollte um der anderen willen hier sein. Was macht er bloß?
»Ich habe gehört, dass in den Vorhügeln von Santa Ana eine Leiche gefunden wurde«, sagte Dee. »Ein Junge aus unserer Schule.«
»Gordie Wilson.« Audrey rümpfte die Nase. »Ihr wisst schon – dieser Zwölftklässler mit den Cowboystiefeln. Die Leute sagen, er würde Katzen überfahren.«
»Jetzt wird er nichts mehr überfahren. Es heißt, ein Berglöwe habe ihn erwischt.«
Als Tom von der Leiche gehört hatte, war sein erster irrationaler Gedanke gewesen: Zach? Michael?
Aber sie waren beide in Sicherheit, ebenso wie Jenny – in der Schule. Obwohl die Schule vielleicht gar nicht so sicher war. Gestern war Jenny aus dem Computerkurs nach Hause geschickt worden, nachdem irgendetwas geschehen sein musste. Was genau, ließ sich nur schwer aus all den widersprüchlichen Geschichten schließen.
Für einen kurzen Moment hatte er mit der Idee gespielt, sie anzurufen und zu fragen – sich dann aber doch dagegen entschieden. Es war nicht mehr zu ändern und Jenny würde wahrscheinlich auch gar keinen Anruf von ihm wollen. Er hatte sie in seinem Auto gesehen, diesen Ausdruck, als der Song gespielt wurde. Verängstigt. Aber unter der Angst lag noch mehr. Ihn hatte sie noch nie so angesehen.
Es spielte keine Rolle. Er hatte sie trotzdem beschützt. Gestern war er dann – nachdem er wusste, dass sie zu Hause war – aufs Polizeirevier gegangen. Er hatte seinen
ganzen Charme bei einer der Cops eingesetzt und erfahren, wo genau die Leiche gefunden worden war.
Und heute schwänzte er einfach die Schule. Mal wieder. Die Lehrer würden bestimmt bald Fragen stellen.
Na und?
Tom fand das trockene Flussbett. Es war nicht allzu weit entfernt von dem berühmten Bell Canyon Trail, wo ein Berglöwe einen Sechsjährigen angegriffen hatte. Die Luft roch nach Salbei.
Ein zerknittertes gelbes Tatort-Absperrband zog sich am Flussbett entlang und jemand hatte verschiedenfarbige Fähnchen in den Boden gesteckt. Tom schlitterte den Hang hinunter zu der Stelle, wo auf den Steinen immer noch winzige Spuren von einem dunklen Fleck zu sehen waren.
Er schaute sich um. Am gegenüberliegenden Ufer war eine Menge los gewesen. Kakteen waren umgeknickt, Ananasblätter ausgerissen. In der Erde prangten Fußabdrücke.
Tom folgte dem Pfad zu einem Hang, der mit purpurnem Salbei bedeckt war. Virginia-Eichen und sich ausdehnende Zypressen warfen gleich in der Nähe einladende Schatten.
Tom betrachtete den Boden.
Einen Moment später ging er langsam auf die Bäume zu. Er wich ein paar Büschen aus und erreichte schließlich drei alte Zypressen, die so dicht nebeneinander wuchsen, dass ihre Äste miteinander verwoben waren.
Die Luft hier war schwer. Sie hatte einen seltsamen Geruch. Ganz schwach, aber beunruhigend. Animalisch.
Wie von einem Raubtier.
Manchmal wuchsen unter diesen alten Bäumen riesige Büschel von Giftsumach. Tom sah sich vorsichtig um, dann trat er das Gebüsch mit dem Fuß auseinander. Der Geruch wurde stärker. Irgendetwas Schweres hatte hier für eine ziemlich lange Zeit gelegen.
Er drehte sich um und ging langsam wieder zurück.
Da sah er es. Auf einem staubigen Felsen zwischen den Bäumen und der Stelle, wo das Flussufer zertrampelt war. Ein schwarzer Spritzer wie Teer. Eine dicke, klebrige Masse, die aussah, als hätte sie an den Rändern Blasen geschlagen.
Tom sog zischend die Luft ein, kniff die Augen zusammen
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