Die Beute
Vorhänge aufzuziehen. Dee konnte es nicht erkennen, weil sie ihren Kopf nicht bewegen konnte. Sie erkannte nur, was direkt über ihr war – eine Gestalt.
Vor dem Hintergrund des dunklen Raumes zeichnete sich etwas noch Dunkleres ab. Eine menschliche Gestalt, die sich vom Kopfende des Bettes her über sie beugte.
Dees Herz dröhnte wie ein Hammerwerk. Sie konnte spüren, dass sie die Zähne bleckte.
Dann begriff sie etwas Entsetzliches.
Das Kopfende – die Gestalt beugte sich vom Kopfende her über sie. Aber dort war eine Wand. Die Gestalt beugte sich aus der Wand heraus über sie.
»Geh weg von mir!«
Ihr Schrei brach den Zauber. Sie sprang aus dem Bett und landete in einem Gewirr von Laken inmitten ihres Zimmers. Sie trat die Laken weg und war mit einem einzigen Satz beim Lichtschalter an der Tür.
Der helle Schein erfüllte den Raum, beleuchtete die ockerfarbenen Wände. Da war nirgendwo eine dunkle Gestalt.
Über dem Bett zwischen der afrikanischen Maske und einem bestickten Tuch aus Syrien hing ein Poster. Ein Poster von Bruce Lee. Genau dort, wo die Gestalt gewesen war.
Dee näherte sich langsam und argwöhnisch dem Poster, auf alles gefasst. Dann betrachtete sie es eingehend. Nur ein gewöhnliches Poster. Bruce Lee starrte mit leerem Blick über ihren Kopf hinweg. Da war etwas Arrogantes in seinem Gesichtsausdruck …
Ruckartig streckte Dee die Hand aus und riss das Poster von der Wand. Die Heftzwecken, die es gehalten hatten, flogen in alle Richtungen. Sie zerknüllte das Poster mit beiden Händen und warf es in Richtung Abfalleimer.
Dann legte sie sich schwer atmend wieder ins Bett.
Zach hatte stundenlang dagelegen, außerstande einzuschlafen. Zu viele Gedanken drängten sich in seinem Kopf. Gedanken – und Bilder.
Er schloss die Augen.
Er und Jenny als Kinder. Wie sie im Kirschgarten Indianer spielten. Wie sie im Bach Piraten spielten. Immer spielten sie irgendetwas, verloren in irgendeiner imaginären Welt. Denn imaginäre Welten waren besser als die Realität. Sicherer, hatte Zach immer gedacht.
Zach atmete heftig aus. Seine Lider öffneten sich flatternd – und dann schrie er.
Über ihm schwebte der Kopf eines Zwölfenders in der Luft.
Er hing nur Zentimeter von seiner Nase entfernt, so nah, dass seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen ihn deutlich sehen konnten. Zach war wie gelähmt. Er wollte sich zur Seite drehen, wollte weg, aber seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht.
Und dann fiel er auf ihn herunter!
Ein schrecklicher Ruck lief durch seinen Körper, gefolgt von einem Adrenalinstoß. Er riss den Arm hoch, um das Ding abzuwehren. Seine Augen schlossen sich in Erwartung des Schlages.
Doch der Schlag kam nicht. Zach ließ den Arm sinken und öffnete die Augen.
Leere Luft über ihm.
Zach schlug trotzdem danach. Er glaubte erst, dass das Ding weg war, als seine Hand auf keinen Widerstand traf.
Dann stand er auf und schaltete alle Lichter ein. Er verließ sein Zimmer und ging nach unten ins Wohnzimmer, wo er ebenfalls Licht machte.
An der holzvertäfelten Wand, der Trophäenwand seines Vaters, hing der Zwölfender an seiner gewohnten Stelle. Zach schaute in seine dunklen Glasaugen. Sein Blick wanderte über das prächtige Geweih, die überraschend zarte Schnauze, den glänzenden braunen Hals.
Es war alles echt und sehr massiv. Zu schwer, um es zu bewegen, und außerdem an die Wand geschraubt.
Das bedeutete, dass er vielleicht den Verstand verlor. Vollkommen überdrehte Fantasie. Das wäre ein Brüller – es durch das Spiel zu schaffen und dann nach Hause zu kommen und wegen nichts und wieder nichts den Verstand zu verlieren?
Ha ha.
Das Wohnzimmer um ihn herum war so still und starr wie eine Fotografie.
Heute Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden. Normalerweise wäre er in seine Dunkelkammer in der Garage gegangen und hätte an irgendetwas gearbeitet. Das hatte er immer getan, wenn er nicht schlafen konnte.
Aber das war – vorher gewesen. Heute Nacht würde er einfach nur die Decke anstarren. Nichts anderes hatte mehr irgendeinen Sinn.
»Hypnopompe Halluzination«, sagte Michael am nächsten Morgen zu Dee. »Wenn man denkt, man sei aufgewacht, obwohl der Geist immer noch träumt. Die dunkle Gestalt in deinem Zimmer ist ein klassisches Beispiel.
Es gibt sogar einen Namen dafür – das Old-Hag-Syndrom, weil manche Leute denken, es sei eine alte Dame, die auf ihrer Brust sitzt und sie lähmt.«
»Richtig«, erwiderte Dee. »Das muss es gewesen
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