Die Beute
Melodie von einer Sängerin, die Jenny kannte, die sie aber im Moment nicht benennen konnte. Wie aus einer anderen Welt. Eigenartig, dass die Band das tat, ohne den Leuten die Chance auf einen Partnerwechsel zu geben.
Auch die Melodie war eigenartig – eigenartig schön. Musik, die einem ins Blut ging, die seltsame Gefühle aufsteigen ließ.
So seltsame Gefühle, wie Jenny sie hatte.
Die Zeit schien sich auszudehnen.
Jenny wollte nicht aufblicken. Das tat man nur, wenn man geküsst werden wollte. Und das wollte Jenny nicht, ganz gleich von welcher Art die Musik war. Es war sicherer, den Kopf einfach gesenkt zu halten.
Sie waren jetzt auf der Schwelle zum Balkon und Jenny konnte über ihn hinweg zum Ozean sehen. Hier, aus dem Dunkeln, war der Ozean noch besser zu erkennen.
Scheinwerfer spiegelten sich auf dem Wasser und sahen aus wie eine Handvoll Monde.
Erstaunlicherweise war niemand sonst auf dem Balkon. Jenny hätte gedacht, dass er gerammelt voll sein müsste, aber es war niemand hier – oder sie konnte es in der Dunkelheit nicht erkennen. Ihr Partner führte sie hinaus in die dunkelste Ecke.
Ich sollte nicht gehen … oh Gott, ich werde noch einmal »Vada via, cretino« sagen müssen …
Trotzdem konnte sie nicht widerstehen.
Auf dem Balkon spürte sie die kühle Nachtluft auf ihren Armen und in ihrem Nacken. Die Musik schien aus weiter Ferne zu kommen. Sie konnte die Worte nicht länger ausmachen, nur einzelne Töne, rein und klar wie Wassertropfen, die in einen stillen Teich fielen. Langsam fielen. Jenny hatte plötzlich das seltsame Gefühl, selbst zu fallen.
Ebenso laut wie vorher die Musik war jetzt das Tosen des Ozeans. Sie standen am Rand des Balkons. Die Wellen zischten und krachten an den Strand unter ihnen. Ein unheimliches Geräusch, dachte Jenny wie durch einen Nebel. Ein formloses, endloses Geräusch. Ein Rauschen wie …
Schhschhschhschhschhschhschh.
Plötzlich war sie hellwach und ein Frösteln überlief sie. In ihrem Magen lag ein Eisklumpen. Jetzt kribbelten nicht nur ihre Fingerspitzen, sondern ihre ganzen Hände.
Geh weg von hier!
Endlich versuchte sie, sich zu lösen. Aber ihr Partner wollte sie nicht loslassen. Mit stählernem Griff hielt er ihre Arme fest, während seine freie Hand ihren Hinterkopf umfangen hielt.
Sie konnte sich nicht bewegen. Schreien war zwecklos. Sie war mit ihm allein auf dem Balkon, der Rest des Balls erschien ihr kilometerweit entfernt. Sie konnte die Musik nicht länger hören, nur den Wind in den Palmen und den Ozean, der unten toste. Sie standen sehr nah an einem sehr tiefen Abgrund.
Jetzt erblickte sie eine Haarsträhne ihres Partners über dem Hemdkragen, der so schwarz war wie sein Smoking. Das war ihr vorher gar nicht aufgefallen – er war ganz in Schwarz gekleidet und sein Haar war blond. Blonder als Brians, blonder noch als Cams. Beinah weiß …
… so weiß wie Nebel oder Frost auf Eiszapfen, so weiß wie Winter …
… so weiß wie der Tod …
Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr. »Famished.«
Nein, nicht so. Gedehnter. »Faaamishhshhed …«
Alles wurde grau.
Das Blut rauschte in Jennys Ohren wie der Ozean. Sie fühlte sich zurückversetzt in jenen Moment, als sie, Tom und die anderen in das Spiel hineingesogen wurden, verschleppt in die Schattenwelt. Jetzt hatte sie dasselbe Gefühl, das Gefühl, von einer Flutwelle weggespült zu werden; sie spürte denselben dunklen Nebel, der ihre Sinne überwältigte. Dasselbe sinnlose, hilflose Grauen. Sie fiel ins Leere.
Doch sie wurde nicht ohnmächtig. Sie wünschte, sie hätte ohnmächtig werden können, aber sie tat es nicht. Sie hing in seinen Armen und konnte kaum ihr eigenes Gewicht tragen, während sie überall um sich herum Dunkelheit wahrnahm – und bei Bewusstsein blieb.
Er würde sie töten. Er war die Stimme am Telefon. Er war der Schattenwolf, der hinter ihr und Audrey her gewesen war. Er war die Schlange im Computerkurs. Er hatte Gordie Wilson getötet.
Sie hörte noch immer das verzerrte, bösartige Flüstern in ihrem Kopf: »Famished …«
Jenny schluchzte. Panik stieg in ihr auf und verlieh ihr neue Kraft für einen weiteren Befreiungsversuch. Zu ihrem Erstaunen ließ er sie los. Sie taumelte zwei Schritte
rückwärts und stieß an das Geländer des Balkons. Dann starrte sie ihn einfach nur an.
Ihr erster Gedanke war, dass sie sich besser hätte vorbereiten sollen – aber es gab keine Möglichkeit, sich auf Julian vorzubereiten. Er war immer ein Schock
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