Die Beute
für die Sinne.
Hinter der schwarzen Maske leuchteten seine Augen wie flüssiges Kobalt. Sein ganzes Gesicht war umschattet. Sein Haar glänzte in der Dunkelheit so weiß wie das Mondlicht auf dem Ozean.
Er war nicht wie ein Mensch. Er war schlauer, böser, heller, als irgendein Mensch es sein konnte. Realer – was seltsam war, da doch angeblich das hier die reale Welt war.
Und da war er nun, in ihrer Welt, nicht an einem Ort wie dem Noch-mehr-Spiele-Laden, der auf halbem Weg zwischen den Welten zu existieren schien. Er war hier, ging umher und war zu allem fähig.
Und jetzt verströmte er eine Aura der Bedrohung. Der Gefahr.
Jennys Herz hämmerte so heftig und ungleichmäßig, dass sie dachte, es würde gleich zerspringen.
»Gelbe Rosen bedeuten Untreue, weißt du«, bemerkte er beiläufig.
Da erinnerte sie sich wieder an seine Stimme. Sobald sie sich von dieser Stimme entfernt hatte, hatte sie ihren Klang vergessen. Sie hatte sich nur an das erinnert, was sie darüber gedacht hatte: dass sie voller elementarer
Musik war, wie Wasser, das über Felsen rauscht. Aber das vermittelte keineswegs einen Eindruck von ihrer Schönheit – oder ihrer Kälte.
Sie legte eine Hand auf die Miniaturrosen an ihrer Schulter. Die hübschen, hellen Blumen mit dem goldenen Schimmer. Im Geiste sah sie, wie Brian bei ihrem Anblick blinzelte, hörte ihn sagen: »Die Floristin muss es wohl verwechselt haben …«
»Du hast sie geschickt.« Ihre Stimme klang seltsam – erstickt und so offensichtlich verängstigt, dass sie sich schämte. Sie wollte die Rosen herunterreißen, aber ihre Hände zitterten.
»Natürlich. Hast du das nicht gewusst?«
Sie hätte es wissen müssen, aber sie war so dumm gewesen. Den ganzen Abend über war sie so dumm gewesen. Sie hatte mit einem maskierten Jungen getanzt, weil er nicht aussah wie Julian; sie hatte vergessen, dass Julian sein Aussehen nach Lust und Laune verändern konnte. Aber hatte sie es wirklich vergessen? Oder hatte irgendein Teil von ihr es gewusst und es hinter sich bringen wollen? Schon viel zu lange quälte sie eine furchtbare Angst.
Mit gutem Grund. Bei ihrer letzten Begegnung mit Julian hatte sie ihn verraten. Sie hatte ihn belogen, hatte ihn dazu gebracht, ihr zu glauben – ihr vielleicht sogar zu vertrauen. Und dann hatte sie die Tür hinter ihm zugeschlagen, in der Absicht, ihn für immer dahinter gefangen zu halten. Sie hatte ihn wie einen Flaschengeist
zurückgelassen. Sie konnte nur ahnen, was er empfunden haben musste, als er begriff, was sie getan hatte. Und jetzt war er gekommen, um sich zu rächen.
»Warum tust du es nicht einfach?«, fragte sie. Diesmal war sie zufriedener mit dem Klang ihrer Stimme; sie war klar, wenn auch nicht ganz fest. Aber wenn sie schon sterben musste, dann mit Würde. »Nur zu, töte mich.«
Er neigte ganz schwach seinen silbrig blonden Kopf. »Ist es das, was ich tun soll?«, fragte er.
»Es ist das, was du Gordie Wilson angetan hast.«
Er lächelte – oh Gott, sie hatte auch dieses Lächeln vergessen. Wolfshungrig. Die Art von Lächeln, bei der man schreiend davonrannte – oder zu Boden sackte.
»Nicht persönlich«, erwiderte er.
»Aber deshalb hast du mich hierhergebracht, nicht wahr?« Jenny betrachtete wieder den Abgrund unter ihr. Ihre zur Schau getragene Fassung bröckelte langsam. Hysterie stieg in ihr auf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Wenn er sie nicht über das Geländer werfen wollte, dann sollte sie vielleicht springen; ein schneller Tod wäre besser als alles, was er mit ihr anstellen würde … »Nur zu, tu es. Bring es einfach hinter dich.«
»In Ordnung«, entgegnete er und küsste sie.
Oh.
Sie hatte gedacht, sie wüsste noch, wie es mit Julian war, wie es sich anfühlte, von ihm geküsst zu werden. Aber ihre Erinnerungen hatten sie getrogen. Oder vielleicht war diese Art von Gefühl auch zu stark, als dass
eine Erinnerung mehr sein könnte als ein bloßer Schatten des eigentlichen Erlebnisses. Binnen eines Augenblicks fühlte sie sich in das Papierhaus zurückversetzt, zu dem Schock, den sie bei seiner ersten Berührung gefühlt hatte. In Toms Armen – damals, als Tom sie noch liebte – hatte sie ein Gefühl der Sicherheit verspürt. Des Trostes.
Bei Julian verspürte sie überhaupt kein Gefühl der Sicherheit. Sie zitterte sofort. Fiel. Schwebte. Seine elektrische Energie strömte in sie und kribbelte in allen Nerven. Ein süßer Schock brachte sie zum Taumeln.
Oh Gott, ich kann
Weitere Kostenlose Bücher