Die Beute
es noch eine andere Möglichkeit«, begann er, dann brach er ab und schüttelte den Kopf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel Jenny nicht. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass man die grünen Einsprengsel in seinen Augen sehen konnte.
»Tom …«, setzte sie an, aber da wandte Audrey sich an sie.
»Hat er dir denn gar nichts darüber erzählt, Jenny? Über seinen Stützpunkt?«
»Nein«, antwortete sie. »Nur dass er irgendwo liegt, wo er uns festhalten kann, bevor er uns in die Schattenwelt bringt.«
»Das bedeutet schon mal, dass der Stützpunkt nicht in der Schattenwelt selbst liegt«, schlussfolgerte Dee, und Michael murmelte: »Gott sei Dank.«
»Aber wo auch immer er ist – man kommt durch so ein Loch dorthin?«, fragte Audrey. »Na wunderbar, vielen Dank.«
»Dieses Loch«, sagte Michael nachdenklich. »Ich glaube, das ist sehr interessant.«
»Vielleicht weil dein Gehirn eines ist«, bemerkte Audrey mit einer Gereiztheit, die sie Michael gegen über schon seit Wochen nicht mehr an den Tag gelegt hatte.
Michael warf ihr einen verwirrten Blick zu, aber nicht verletzt wie sonst. »Nein, im Ernst«, sagte er. »Wisst ihr, dieses Loch bringt mich auf einen Gedanken. Es gibt da eine Geschichte von Ambrose Bierce – das Buch müsste wahrscheinlich irgendwo hier sein.« Er drehte den Kopf zu den Bücherregalen, die von einer Wand zur anderen reichten. Michaels Vater schrieb Science-Fiction-Storys, und so war die ganze Wohnung voller seltsamer Dinge: Raumschiff-Modelle, obskure Science-Fiction-Film-Poster, unheimliche Masken – aber das Auffälligste waren die Bücher. Bücher, die von den Regalen
quollen, Bücher, die in Stapeln auf dem Boden lagen. Und wie gewöhnlich konnte Michael das Buch, nach dem er suchte, nicht finden.
»Wie auch immer«, sagte er. »Ambrose Bierce hat eine Trilogie geschrieben, in der es darum geht, dass Leute auf ganz merkwürdige Weise verschwunden sind, und eine dieser Geschichten handelt von einem sechzehn Jahre alten Jungen. Sein Name war Charles Ashmore, und eines Nachts, nachdem es geschneit hatte, wollte er zum Brunnen, um Wasser zu holen. Er ging zur Tür hinaus und kam nie mehr zurück. Als seine Familie nach draußen ging, um nachzusehen, was los war, entdeckte sie seine Spuren im Schnee – und die Spuren endeten auf halbem Weg zum Brunnen und hörten dann einfach auf.« Michael senkte dramatisch die Stimme. »Niemand hat ihn jemals wiedergesehen.«
»Na klasse«, murmelte Jenny. »Aber was hat das mit unserer Situation zu tun?«
»Die Geschichte ist angeblich reine Fiktion, okay. Aber es gibt in diesem Buch noch einen anderen Teil, wo ein deutscher Arzt – Dr. Hern oder so – die Theorie vertritt, dass Leute folgendermaßen verschwinden: Er sagt, dass es ›in der sichtbaren Welt Hohlräume‹ gebe – so etwas wie Löcher im Schweizer Käse.«
»Und dieser Junge ist in ein solches Loch hineingefallen?« , fragte Dee, offensichtlich fasziniert.
»Hineingefallen – oder hineingezerrt. Wie gesagt, diese Geschichten sind angeblich fiktiv. Aber was ist,
wenn es wirklich solche Hohlräume gibt? Und was, wenn Julian sie kontrollieren kann?«
»Eine fiese Vorstellung«, sagte Dee. »Aber sie gefällt mir.«
»Willst du damit sagen, dass alle Leute, die verschwinden, in die Schattenwelt fallen?«, fragte Audrey.
»Vielleicht nicht alle, aber einige von ihnen. Und vielleicht auch nicht den ganzen Weg bis hinunter, vielleicht nur einen Teil des Weges. In der Geschichte ging Charles Ashmores Mutter am nächsten Tag an der Stelle vorbei, an der er verschwunden war, und sie konnte seine Stimme hören. Sie hörte sie mit jedem Tag schwächer und schwächer, bis sie schließlich völlig verstummte.«
»Auf halbem Weg zwischen den Welten«, flüsterte Jenny. »Wie der Noch-mehr-Spiele-Laden – ein Ort auf halber Strecke zwischen der Schattenwelt und hier.«
Dee sah sie scharfsinnig an. »Wie Julians Stützpunkt, hm? Irgendwo, wo er uns festhalten kann, bevor er uns in die Schattenwelt bringt.«
»Außerdem hört man auch über wirbelnde Bewegungen in Stonehenge und Sedona, Arizona«, sagte Michael. »War es wie ein Wirbel, Audrey?«
»Es war groß und schwarz«, antwortete Audrey knapp. »Ich weiß nicht, wie viel wirbeliger du werden kannst.« Aber sie gab Michael immerhin die Überraschung aus ihrer Cracker-Jack -Packung, eine blaue Plastiklupe. Er legte sie neben seine eigene Cracker -Überraschung, eine Mini-Baseballkarte.
Jenny spielte
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