Die Beute
über Tom, um den Ärmel von Michaels Sweatshirt zu ergreifen. »Aber beim letzten Mal haben wir sie zurückbekommen, Michael. Und wir werden sie auch diesmal wieder zurückbekommen.«
Mit einer fließenden, anmutigen Bewegung erhob sich Dee. »Ich denke, von jetzt an sollten wir besser alle zusammenbleiben«, stellte sie fest.
Zach war hinter Jenny getreten. Sie waren nur noch zu fünft, aber sie waren zusammen, ein miteinander verbundenes Grüppchen in der Mitte der Küche. Jenny spürte die Kraft der anderen.
»Wir können im Wohnzimmer schlafen«, schlug Michael vor. »Auf dem Boden. Wir können die Möbel verschieben.«
Sie plünderten das Schlafzimmer und holten Decken und Matratzen hervor und im Wandschrank fanden sie noch Schlafsäcke. Im Badezimmer zog Jenny ihr goldenes Kleid aus und schlüpfte in einen alten Jogginganzug von Michael. Sie stopfte den schimmernden Stoff in den Wäschekorb; dieses Kleid wollte sie nie wiedersehen.
Sie hatte Angst, auch nur eine Minute allein zu sein.
Aber wir haben keinen neuen Hinweis, dachte sie. Und ohne einen weiteren Hinweis kann er nichts mehr tun. Es wäre nicht fair.
»Es wäre nicht fair «, sprach sie mit zusammengebissenen Zähnen zur Wand. Plötzlich war ihr in den Sinn gekommen, dass Julian sie vielleicht hören konnte. Vielleicht sogar sehen – schließlich hatte er sie jahrelang aus den Schatten heraus beobachtet. Es war ein beunruhigender Gedanke zu wissen, dass kein Ort privat war, aber jetzt hoffte Jenny, dass er zuhörte.
»Es ist überhaupt kein Spiel, wenn wir keine Chance haben«, erklärte sie der Wand leise, aber grimmig.
Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Matratze neben Tom. Er legte seinen Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn, dankbar für seine Wärme und Kraft.
Wenn all dies einen Sinn hatte, dann den, dass Tom wieder bei ihr war. Sie kuschelte sich in seinen Arm und schloss die Augen. Dies war der Ort, an dem sie Julian vergessen konnte – an dem sie alles Dunkle und Schreckliche vergessen konnte. Toms starke, warme Hand umschlang ihre und hielt sie fest.
Dann spürte sie, wie der Druck nachließ und Toms Körper sich verspannte. Er hielt ihre Hand hoch und sah sie an.
Nein, nicht ihre Hand. Den Ring.
Der goldene Ring, der sich früher am Abend wie Eis an ihrem Finger angefühlt hatte, war jetzt ebenso warm wie der Rest ihres Körpers. Schon seit Stunden hatte sie ihn nicht mehr bemerkt.
Entsetzt entriss sie Tom ihre Hand. Sie versuchte, den Ring abzustreifen. Aber er ließ sich nicht bewegen.
Seife, dachte sie. Sie zog und drehte hektisch daran, bis ihr Finger ganz rot wurde. Seife oder Butter …
Es nutzte nichts.
Sie wusste es, auch ohne es zu versuchen. Der Ring würde bleiben. Er würde sich nicht abziehen lassen, bis Julian dies wollte. Sonst wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, die Gravur auf der Innenseite zu verändern – und dieses Risiko wäre Julian niemals eingegangen. Er hatte gesagt, dass das Aussprechen und Niederschreiben die Worte wahr machten. Er hätte niemals riskiert, dass Jenny diese Worte und damit ihr Schicksal verändern könnte.
»Wir werden das Spiel gewinnen«, sagte sie und blickte direkt in Toms Augen, die sich verdunkelt hatten. »Und wenn wir gewinnen, bin ich von meinem Versprechen befreit.« Sie sagte es beinahe flehend – aber Toms Gesicht blieb verschlossen. Er hatte sich wieder entfernt und stattdessen einen höflichen Fremden zur ückgelassen.
»Wir sollten besser schlafen«, sagte er und drehte sich zu seinem eigenen Deckenhäufchen um.
Jenny spürte die Inschrift des Rings, als würden sich die Buchstaben in ihre Haut einbrennen.
Nichts ist so beängstigend, wie aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man ist. Genauso erging es Jenny am Sonntagmorgen. Sie öffnete die Augen und war völlig orientierungslos. Sie wusste nicht, wo ihr Platz in der
Welt war, wusste nicht, in welcher Zeit und welchem Raum sie sich befand.
Dann kehrte die Erinnerung zurück. Michaels Wohnzimmer. Wegen Julian.
Sie richtete sich so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. Hektisch hielt sie nach den anderen Ausschau.
Sie waren alle da. Michael hatte sich unter seiner Decke zu einer Kugel zusammengerollt, Dee lag lässig ausgestreckt wie eine schlafende Löwin auf der Couch. Zach schlief auf dem Boden, sein blonder Pferdeschwanz über dem Kissen ausgebreitet. Tom lag neben ihm, das Gesicht Jenny zugewandt, eine Hand nach ihr ausgestreckt. Als hätte er sie im Traum berühren
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