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Die Beute

Die Beute

Titel: Die Beute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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ein Wolf, den man mit Leuchtfarbe gemalt hatte. Sein bloßer Anblick reichte aus, um einen Menschen, verrückt vor Angst, in die Flucht zu schlagen.
    Denn er war nicht real – er war über -real. Er verkörperte die Urangst vor dem Wolf – vor dem bösen Wolf, von dem Kinder träumten. Vor dem Wolf, der für das Märchen vom Rotkäppchen Pate gestanden hatte. Vordem Wolf, der im Hinterkopf der Menschen lauerte, ewig geduckt und sprungbereit. Dieser Wolf erinnerte daran, wie die Welt einst gewesen war; ein grausamer Ort, wo Menschen zu Beute wurden, wo Zähne und Klauen einen des Nachts heimsuchten und man gefressen wurde.

    Komisch, dachte Tom, dass die meisten Menschen es heutzutage für selbstverständlich halten, nicht gefressen zu werden. Vor nicht allzu langer Zeit – vor einigen Tausend Jahren vielleicht – war das noch ein ernsthaftes Problem gewesen. Eine ständige Gefahr, so wie es für Vögel, Kätzchen, Mäuse und Gazellen noch heute eine Gefahr war.
    Beim Anblick des Schleichers, des Schattenwolfs, kehrte die Erinnerung deutlich zurück. Wie es sich anfühlte, von etwas gejagt zu werden, das einem seine Zähne in die Eingeweide rammen wollte. Von etwas, mit dem man nicht verhandeln konnte, etwas ohne Gnade, an die man appellieren konnte. Etwas, das nur daran interessiert war, Fleisch in Brocken zu reißen.
    Tom konnte so etwas nicht in Jennys Nähe lassen.
    Er war jetzt fast dicht genug dran. Der Wolf bewegte sich langsam und geduckt auf ihn zu. Durch das Plätschern des Regens konnte Tom sein Knurren hören.
    Er hob die Waffe an die Schulter.
    Vorsichtig – ruhig. Er war darin ziemlich gut, ein exzellenter Schütze auf Jahrmärkten. Der Wolf war fast in Reichweite. Tom richtete das Fadenkreuz aus …
    … und hörte ein Geräusch hinter sich.
    Ein schlitterndes, schleppendes Geräusch. Der Kriecher. Die Schlange.
    Er drehte sich nicht um. Er wusste, dass sie ihn fast erreicht hatte, er wusste, dass sie ihn erwischen würde, wenn er jetzt nicht losrannte. Aber er drehte sich nicht
um. Mit all seiner Willenskraft hielt er den Blick auf den Wolf gerichtet.
    In Reichweite. Jetzt! Jetzt!
    Ein schreckliches Zischen direkt hinter ihm …
    Tom ignorierte es und drückte ab.
    Der Rückstoß ließ ihn taumeln. Bei Jahrmarktwaffen gab es so etwas nicht. Aber der Wolf war perplex. Die Wucht der Kugel stoppte ihn.
    Erwischt! Ich hab ihn erwischt! Ich hab es geschafft …
    Da schlug die Schlange zu.
    Tom spürte den Schlag auf seinem Rücken. Aus dem Gleichgewicht gebracht, fiel er hin. Aber noch im Fallen drehte er sich um. Ein weiterer Schuss – wenn er bloß noch einen Schuss abfeuern konnte …
    Er lag im Schlamm. Die Schlange ragte über ihm auf, eine schwankende Säule aus Dunkelheit. Riesig und ungeheuer mächtig. Die Augen leuchteten in einem überirdischen Licht, das Maul war zu einem Zischen aufgerissen. Der riesige, dunkle Kopf bäumte sich auf, um zuzuschlagen …
    Jetzt! Für Jenny …
    Tom feuerte direkt in das klaffende Maul.
    Der Kopf der Schlange explodierte.
    Es war schrecklich. Dunkles Blut spritzte überall hin, brannte in Toms Gesicht, machte ihn blind. Die Schlange wand sich und schlug im Todeskampf nach ihm. Er wurde sie nicht los. Überall Blut und Dunkelheit und Grauen.

    Aber ich habe es geschafft, dachte Tom und griff wild entschlossen nach dem zuckenden, spritzenden Körper der Schlange. Oh, Gott, auch wenn ich nicht hier rauskomme  … ich habe es geschafft. Sie sind tot.
    In diesem Moment hörte er das Geräusch.
    Ein Tosen in der Ferne wie von einem Wasserfall – oder einem Fluss. Es kam schnell näher. Und Tom konnte nichts sehen, konnte nicht aufstehen.
    Jenny, dachte Tom – und dann schlug das Wasser über ihm zusammen.
     
    »Jenny, du machst mir Angst«, sagte Michael. Es war fast ein Flüstern.
    Jenny selbst hatte keine Angst. Sie war kalt und klar und maßlos zornig.
    Die Idee, dass Julians Stützpunkt ein Fluss sein könnte, war ihr schon einmal in den Sinn gekommen. Aber sie hatte sie in der vergangenen Nacht verworfen, weil sie nicht zu der Tür passte.
    Tom hatte das offensichtlich anders gesehen.
    »Geh weiter«, sagte sie. Es schien, als seien sie schon seit einer Ewigkeit unterwegs. Sie wusste, dass sie in der richtigen Gegend waren, weil sie Toms Wagen gefunden hatten – aber wo war das Flussbett? Michael humpelte schwer.
    »Was ist das?«
    Ein rauschendes, fließendes Geräusch, lauter als der Regen. Jenny wusste, was sie sehen würde, noch

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