Die Beute
dunkel wie in der Nacht.
»Ungefähr vier. Du hast eine ganze Weile geschlafen.«
Jenny fragte sich, warum sie flüsterten, dann sah sie die Decken an Toms Platz. Er war eingewickelt wie eine Mumie, selbst sein Kopf war bedeckt.
Gut – er braucht ebenfalls Ruhe, dachte Jenny und reckte sich. Das Stück Papier raschelte auf ihrem Schoß. Jennys müde Augen konzentrierten sich auf die Schrift, und ihr umnebeltes Gehirn nahm die Worte nicht als Worte wahr, sondern lediglich als Buchstaben – Laute. Pas de lieu …
Plötzlich schoss sie hoch und keuchte auf. Michael fuhr fast aus der Haut.
»Was ist los?« Hastig kam er auf sie zugehumpelt. »Hast du es herausgefunden? Bin ich es?«
»Ja – wir waren so dumm, Michael. Wir haben das Wörterbuch gar nicht gebraucht. Es ist überhaupt nicht Französisch.«
»So viel Französisch kann selbst ich noch erkennen.«
Jenny umklammerte seinen Arm. »Die Worte sind französisch, aber es ist kein französischer Satz. Das habe ich schon mithilfe des Lexikons herausgefunden – die Worte ergeben keinen Sinn, wenn man sie zusammenfügt. Sie haben nur auf Englisch einen Sinn.«
»Wovon redest du – Englisch?« Michael vergaß zu flüstern.
»Sag die Worte einfach vor dich hin, Michael. Lass sie dabei irgendwie miteinander verschmelzen.«
»Pas…de…lieu…Rhône…que…nous – das bedeutet gar nichts!«
»Doch, tut es wohl. Es bedeutet ›Paddle your own canoe‹.« Michaels Lippen formten stumm die Worte, während er auf das Papier starrte, dann schlug er sich an die Stirn. »Oh, mein Gott. Du hast recht. Aber Jenny« – er ließ die Hand sinken und sah sie an –, »was heißt das?«
»Ich weiß es nicht.« Jenny schaute aus dem Fenster, große Tropfen hingen von den Dachtraufen, kleine Tropfen fielen auf den Beton. »Aber es hat etwas mit Wasser zu tun, darauf wette ich – also darf keiner von uns nach draußen gehen. Aber begreifst du denn nicht, Michael« – sie drehte sich aufgeregt zu ihm um –, »wir haben es geschafft! Wir haben es endlich geschafft! Wir haben einen Hinweis und wir alle sind hier in Sicherheit. Diesmal können wir gewinnen!«
Etwas an Michaels Gesichtsausdruck bremste ihre Euphorie.
Dann dämmerte es ihr – sie und Michael flüsterten schon eine ganze Weile nicht mehr. Eben hatten sie beinahe geschrien – aber Toms Decken hatten sich nicht bewegt.
»Michael …« Er starrte sie voller Entsetzen an. Wieder dieser Hamsterblick. Mit einer einzigen Bewegung riss Jenny Toms Decken weg.
Sie starrte auf die zusammengeknüllten Kissen darunter. Sie konnte spüren, wie sie innerlich zusammenbrach.
»Michael.« Völlig regungslos klammerte sie sich an den Decken fest. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Er zuckte zusammen und hob abwehrend eine Hand. »Wo ist er, Michael?«, fragte sie gefährlich leise.
»Er hat mich dazu gezwungen, Jenny – ich hab ihn gewarnt, aber er wollte nicht hören …«
»Michael, wo ist er?« Jenny hatte Michaels graues Sweatshirt zu fassen bekommen und schüttelte ihn. »Wohin ist er gegangen?«
Sprachlos schaute Michael zu dem grauen, tropfenden Fenster. In seinen dunklen Spanielaugen schwammen Tränen.
»Er ist in die Vorhügel von Santa Ana gegangen«, stieß er schließlich hervor. »An den Ort, von dem er uns erzählt hat – wo man Gordie Wilson gefunden hat. Er dachte, er könnte den Stützpunkt dort finden – oder vielleicht einfach den Wolf oder die Schlange töten. Er sagte, dass es dir und mir vielleicht helfen würde, wenn er sie tötete, selbst wenn er …« Er brach ab. »Ich habe ihm erklärt, dass er das nicht tun dürfe, Jenny«, fuhr er fort. »Ich habe ihm gesagt, er solle nicht gehen …«
Jenny hörte ihre Stimme seltsam leise, wie losgelöst von ihr selbst. Beinahe melodisch. »Dorthin, wo man Gordie Wilson gefunden hat – in einem Flussbett. Das ist nicht wahr, oder?«
Michael blinzelte in das Grau, das durch das Fenster drang. »In einem Fluss …«, flüsterte er.
Dann sahen sie einander an.
»Komm«, sagte Jenny schließlich. »Wir müssen ihn finden.«
»Er hat gesagt, dass ich dich hier festhalten …«
»Nichts wird mich hier festhalten. Ich gehe, Michael. Die Frage ist nur, ob du mitkommst oder nicht.«
Michael schluckte. »Ich komme mit.«
»Dann lass uns von hier verschwinden. Vielleicht ist es auch schon zu spät.«
Tom hatte noch nie eine Waffe abgefeuert. Das Gewehr stammte aus dem Schrank von Zachs Vater. Dieser würde nicht
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