Die Beute
werde sie alle zurückbekommen – auf meine Weise.«
»Ich bewundere deine Zuversicht wie immer«, erwiderte er. »Aber du kannst nicht gewinnen. Nicht gegen mich, Jenny. Ich bin der Meisterspieler.«
»Eine Tür, durch die ich gegangen und doch nicht gegangen bin«, überlegte sie laut. »Eine Tür, die man auf die richtige Art und Weise betrachten muss.«
Er lächelte. »Eine Tür in den Schatten. Aber du wirst sie erst finden, wenn ich dich durch sie hindurchführe.«
Das werden wir ja sehen, dachte Jenny. Mit einem Mal wurden die Dinge um sie herum unscharf – die Schatten wuchsen. Der Traum verblasste.
»Hier«, sagte Julian, »zur Erinnerung an mich.«
Er drückte ihr eine silberne Rose in die Hand.
Jenny erkannte sie. Es war die Rose, die er ihr in der Burg des Erlkönigs gegeben hatte, eine schimmernde, halb geöffnete Blüte, perfekt bis ins winzigste Detail. Die Blütenblätter lagen kühl, aber weich in ihrer Hand.
Um den Stiel war etwas wie ein Stück weißes Papier gewickelt.
Diesmal werde ich sofort aufwachen, dachte sie.
Und sie wachte auf. Die silberne Rose lag auf ihrem Kissen. Sie fegte sie beinahe herunter, als sie so rasch wie möglich die beiden Deckenbündel auf dem Wohnzimmerboden betrachtete.
Tom und Michael. Sie waren beide da. Zwei dunkle Köpfe auf weißen Kissen. Jenny beugte sich vor und rüttelte an der Schulter, die ihr am nächsten war.
»Michael, Tom, wacht auf. Ich habe einen weiteren Hinweis.«
Aber als sie das Stück Papier von dem Stiel gewickelt hatte, war sie sich nicht mehr so sicher.
»Es ist französisch«, stellte Michael fest. »Und keiner von uns spricht Französisch. Das ist schon wieder nicht fair.«
»Das Leben ist nicht fair«, murmelte Jenny und starrte frustriert auf die Worte. Es waren nur sechs.
Pas de lieu Rhône que nous
»Wenn wir nur Audrey hierhätten«, wünschte sie. »Nous bedeutet ›wir‹, denke ich – oder heißt es ›ihr‹?«
»Vielleicht hat Dad irgendwo ein französisches Übersetzungswörterbuch«, sagte Michael.
Tom versuchte nicht einmal, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Er hatte zuerst die silberne Rose betrachtet, dann Jenny und dann hatte er sich zurückgelehnt. Jetzt starrte er seine Hände an.
Jenny wollte ihn schon ansprechen, ließ es aber sein. Wie sie bereits Michael erklärt hatte – was gab es da noch zu sagen?
Der Ring an ihrem Finger fühlte sich so kalt wie Eis und so schwer wie Blei an.
Michael fand das Französischwörterbuch am nächsten Morgen, aber Jenny konnte sich noch immer keinen echten Reim auf den Hinweis machen. Die Worte waren französisch, aber so zusammengefügt, schienen sie keinen Sinn zu ergeben.
»Es geht um mich, ich weiß es«, sagte Michael. »Weil es französisch ist. Audrey ist mit Französisch verbunden und ich bin mit Audrey verbunden. Ich bin der Nächste.«
»Sei nicht albern«, protestierte Jenny. »Wir wissen nicht, wer von uns der Nächste ist – aber wenn wir alle zusammenbleiben …«
»Zusammenzubleiben hat Michael und Dee auch nicht
viel gebracht«, stellte Tom fest, der sich angewöhnt hatte, pausenlos im Flur auf und ab zu gehen.
»Er wird uns alle holen. Einen nach dem andern«, murmelte Michael. »Und ich bin der Nächste.«
Jenny starrte auf das Wörterbuch und rieb sich die Augen.
Es war dunkel und stickig in der Wohnung. Draußen war der Himmel bewölkt, so grau wie Beton. Jenny fühlte sich wie eine Ratte, die in der Falle saß.
Sie versuchte, über den Stützpunkt nachzudenken und nicht mehr über den französischen Hinweis. Sie hatte Michael und Tom erzählt, was Julian über diese Tür gesagt hatte, aber keiner von ihnen konnte sich einen Reim darauf machen. Tom ging endlos auf und ab, Michael starrte ins Leere und Jenny war sehr, sehr müde.
Ihr Kopf fühlte sich dumpf an und ihre Augen schmerzten. Sie hatte in der letzten Nacht so gut wie nicht geschlafen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie vielleicht besser nachdenken. Wenn sie sie nur für ein paar Minuten schloss …
Ein Krachen schreckte sie jäh auf.
»Entschuldige«, flüsterte Michael schuldbewusst und hob ein Tablett auf. Er wirkte noch nervöser als sonst – beinahe wild. Sein Haar stand ihm vom Kopf ab, und seine Augen erinnerten Jenny an den Hamster, den sie einmal gehabt hatte – einen hektischen Hamster, der immer versucht hatte, vor ihr davonzulaufen.
»Wie spät ist es?«, flüsterte Jenny zurück und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Es war fast so
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