Die Beute
und dass Brian das nicht verdiente. Er versuchte nur, nett zu sein. Aber die ganze Situation brachte sie etwas aus der Fassung. Offensichtlich war sie nicht seine erste Wahl gewesen, da heute Montag war und der Schulball an diesem Samstag stattfand, aber dass er sie überhaupt fragte, war ein Kompliment. Brian Dettlinger war schließlich nicht irgendein pickliger Loser, der in letzter Minute verzweifelt nach einem Date suchte – er war der Kapitän des Footballteams und ging mit der Anführerin der Cheerleader aus. Er war ein Star.
»Ma è pazzo?«, fragte Audrey, nachdem er sich wieder getrollt hatte. »Bist du verrückt geworden? Das war Brian Dettlinger .«
»Was hast du denn von mir erwartet? Dass ich mit ihm auf den Ball gehe?«
»Nein – aber …« Audrey schüttelte den Kopf und betrachtete Jenny durch ihre stachligen pechschwarzen Wimpern. »Du hast dich verändert, weißt du. Das ist irgendwie fast erschreckend. Es ist so, als seist du erblüht, und niemand hätte es bemerkt. Wie ein Licht, das in dirangeknipst wurde. Und zwar seit …«
»Wir müssen zum Sportunterricht«, sagte Jenny abrupt.
»Ich dachte, du wolltest schwänzen.«
»Jetzt nicht mehr.« Jenny wollte nicht, dass sich noch etwas anderes veränderte. Sie wollte sich sicher fühlen,
so wie früher. Sie wollte eine ganz normale Elftklässlerin sein, die sich auf die Sommerferien in ungefähr einem Monat freute. Und sie wollte Tom.
»Komm«, sagte sie. Als sie gingen und ihre leeren Eistee-Flaschen in den metallenen Abfalleimer neben dem Englischtrakt warfen, hatte sie für einen Moment das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnell schaute sie sich um, aber sie konnte niemanden entdecken.
Tom sah ihr nach.
Er fühlte sich mies, weil er im Schatten des Englischgebäudes herumlungerte, hinter den verwitterten Metallsäulen, die das verandaähnliche Dach trugen. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen, sich zu zeigen.
Er würde sie verlieren und es war seine eigene Schuld.
Er hatte es vermasselt. In großem Stil. Das Wichtigste in seinem Leben – und bis vor siebzehn Tagen war ihm nicht einmal klar gewesen, dass es das Wichtigste war. Bis zum zweiundzwanzigsten April. Dem Tag des Spiels. Dem Tag, an dem Julian gekommen war und ihm Jenny weggenommen hatte.
Natürlich hatte er Jenny geliebt. Lieben war einfach. Aber er hatte nie darüber nachgedacht, wie er sich fühlen würde, wie sein Leben sich anfühlen würde ohne sie – denn er war sich immer sicher gewesen, dass sie da sein würde. Man sitzt schließlich nicht herum und denkt: »Ich frage mich, wie es sich anfühlen würde, wenn die Sonne morgen nicht aufginge.«
Er hatte so vieles als gegeben vorausgesetzt, so vieles für selbstverständlich genommen. Er war träge gewesen. Das kam dabei heraus, wenn einem alles auf dem Silbertablett serviert wurde. Wenn man sich nie beweisen musste, wenn die Leute einen umschmeichelten, weil man gut aussah, ein scharfes Auto fuhr und im Football ein guter Werfer war. Weil man einfach Tom Locke war. Man begann zu glauben, dass man überhaupt nichts brauche.
Bis man herausfand, wie sehr man sich geirrt hatte.
Das Problem dabei war: Gerade als er herausgefunden hatte, wie sehr er Jenny Thornton brauchte, hatte sie herausgefunden, dass sie ihn nicht mehr brauchte.
Er hatte sie an diesem anderen Ort gesehen, in dem Papierhaus, das Wirklichkeit geworden war. Sie war so mutig und so schön gewesen, dass es ihm in der Seele wehgetan hatte. Sie kam bestens ohne ihn aus.
Vielleicht wäre trotzdem immer noch alles in Ordnung gewesen – ohne Julian. Ohne den Schattenmann. Den Jungen mit Augen wie Gletscherteiche, den Jungen, der alle entführt hatte, weil er Jenny wollte. Was unbestreitbar böse war – aber Toms Meinung nach auch absolut verständlich.
Seitdem hatte Jenny sich verändert. Vielleicht hatten die anderen es noch nicht wirklich bemerkt. Aber Tom hatte es bemerkt. Sie war jetzt anders, noch schöner und – einfach anders. Es gab Zeiten, da lag ein entrückter Ausdruck auf ihrem Gesicht, als lausche sie auf
etwas, das niemand sonst hören konnte. Als lausche sie vielleicht auf Julians Stimme in ihrem Kopf.
Weil Julian sie geliebt hatte. Julian hatte es gesagt – hatte all die Dinge gesagt, die auszusprechen Tom nie in den Sinn gekommen waren. Und Julian hatte den Charme des Teufels.
Wie konnte Jenny dem überhaupt widerstehen? So unschuldig, wie sie war. Vielleicht dachte Jenny auch, dass sie Julian ändern könnte
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