Die Beutefrau
hatte Gisela den Weg zu ihm gefunden, und jetzt konnte er sie fragen, warum sie ihm in den vergangenen Jahren ferngeblieben war. Das hatte ihn äußerst beunruhigt, auch wenn ihm seine Späher zu berichten wußten, daß sie sich bester Gesundheit erfreute, kluge Schriften verfaßte und als Äbtissin ein vorbildliches Leben führte. Aber das war doch kein Grund, ihn zu meiden, ja ihm nicht einmal zu schreiben! Zwischen ihnen bestand schließlich ein Band, das fester als jedes Ehegelöbnis war, eine Nähe und Verbundenheit, die er keiner seiner Frauen gestattet hatte – nicht einmal Hildegard.
Freundlich musterte er das kleine Mädchen, das sich stumm an Giselas Hand klammerte und vor dem durchdringenden Blick der metallfarbenen Augen des großen kräftigen Mannes die Lider senkte.
»Aber weshalb reist du unerkannt? Und wer ist dieses Kind?« fragte er und beugte sich zu ihr hin, um sie zu umarmen. Gisela wich zurück.
»Dir dies mitzuteilen, bin ich hergekommen, Bruder«, entgegnete sie mit einer ihm völlig unbekannten Härte. Sogar ihre Stimme schien sich geändert zu haben; jedenfalls klang sie ihm fremd. »Aber nicht alles ist für Hruodhaids Ohren bestimmt. Sie ist in der Zwischenzeit bei deinen Töchtern besser aufgehoben.«
Mit der freien Hand griff sie ihrem Bruder ans Kinn und zog seinen Kopf zu sich herunter. Karl ließ es mit sich geschehen, in Erwartung des längst überfälligen Begrüßungskusses. Doch statt dessen zischelte ihm Gisela leise ins Ohr: »Schließlich ist sie eine von ihnen.«
Karl fuhr zurück.
Der König war an Überraschungen gewöhnt, und zu den geringsten darunter gehörte die Mitteilung, daß eine Frau ihm wieder einmal ein Kind geboren hatte. Im Regelfall wurde ihm die frohe Botschaft allerdings gleich nach der Geburt des Kindes überbracht und nicht, wenn es, wie dieses, etwa so alt wie seine eheliche Tochter Theodrada war. Hatte ein Liebesabenteuer fern seiner Gemahlin Folgen gezeitigt, brachte sein junger Schreiber Einhard Mutter und Kind in einem entfernt gelegenen Kloster unter, wo beide für den Rest ihres Lebens bestens versorgt wurden. Was fiel seiner Schwester ein, ihm jetzt mit einem dieser Kinder lästig zu fallen?
Offiziell konnte der Frankenherrscher seine Bastarde nicht anerkennen. Schließlich hatte er sich zum Hüter christlicher Werte aufgeschwungen und angeordnet, daß Ehebruch und außereheliche Verhältnisse seiner Untertanen mit strengen Strafen belegt wurden. Seine Autorität würde ungeheuren Schaden nehmen, wenn ruchbar würde, daß er sich an seine eigenen Gesetze nicht hielt!
Obwohl er unermüdlich daran arbeitete, sein Reich zusammenzuhalten, zu vergrößern und die Länder zu einen, galt seine Position immer noch nicht als unanfechtbar. Es gab sogar Stimmen, die ihm die Schuld an der Pferdeseuche gaben, die seinen so gut vorbereiteten Feldzug ins Awarenland im vergangenen Jahr zum Fehlschlag werden ließ. Er wußte, daß ihn viele seiner Edlen für größenwahnsinnig hielten, weil er sich mit diesem zähen und bislang unbesiegbaren Reiter- und Räubervolk anlegte. Offiziell ließ er verlauten, er müßte die Awaren bestrafen, weil sein Cousin und Gegner Tassilo von Bayern sie als Verbündete aufgesucht habe, aber hinter Karls Einfall ins Awarenland steckte sein Wissen um die ungeheuren Reichtümer, die von den Awaren im Laufe der vergangenen Jahrhunderte erbeutet worden waren und in ihren gewaltigen Ringburgen lagerten. Hatte er erst diese Schätze in seinen Besitz überführt, würde es keiner mehr wagen können, seine Macht in Frage zu stellen.
Für einen Krösus galten schließlich andere Gesetze, und als ein solcher müßte er sich nie wieder über mögliche Folgen Gedanken machen, wenn er die eigenen Vorschriften brach. Aber bis es soweit war, sollten Kinder, wie dieses Kind an Giselas Hand, dort verwahrt werden, wo sie seiner Autorität keinen Schaden zufügen konnten. Gisela war offensichtlich gekommen, ihm Schwierigkeiten zu bereiten, auch wenn er nicht begriff, warum. Nun, wenn es sein mußte, konnte er genauso unversöhnlich sein.
»Schick sie zu ihrer Mutter zurück!« befahl er.
Um Giselas Mund zuckte es.
»Mutter und Vater waren ihr noch nie so nah«, gab sie kryptisch zurück.
In diesem Augenblick flog die Tür auf. Ein weißblondes Mädchen stürzte ins Gemach und suchte Zuflucht hinter Karls breitem Rücken. Ein Junge und zwei Mädchen blieben schweratmend vor dem König stehen.
»Was geht hier vor?« fragte Karl
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