Die Beutefrau
christlichen Heiligen schließlich nur als unzureichenden Ersatz betrachten, ganz gleich, ob er nun Sachse oder Grieche war. Sicher, in Asgard, dem Götterreich der Germanen, wirkte alles erheblich finsterer, bedrohlicher und weniger vergnüglich als auf dem griechischen Olymp, aber das schob Teles kurzerhand auf die unterschiedlichen Wetterverhältnisse. Wo es lange dunkel, kalt und regnerisch war, wurden eben auch die Götter mürrischer.
Als Widukind bei seiner Taufe in Attigny erfuhr, daß König Karl seine dreijährige Tochter Gerswind als Geisel an seinem Hof behalten wollte, verhinderte Teles, daß der Sachsenführer im letzten Moment doch noch einmal die Waffen erhob. Er raunte ihm zu, daß er über das Kind wachen werde, als wäre es sein eigenes. Bei Wotan, Zeus, Saxnot und der Göttin Berchta schwor Teles, dafür Sorge zu tragen, daß Gerswind niemals vergessen würde, woher sie stammte. Er schwor, ihr all jenes über den Glauben ihrer Ahnen, die sächsischen Bräuche und Zauberkünste zu vermitteln, was er selbst in seiner Zeit als Geisel von Widukind gelernt hatte. Und er schwor, daß er bei Erreichen ihres zehnten Lebensjahres – so er und Widukind dann noch unter den Lebenden weilten – eine Begegnung zwischen Vater und Tochter herbeiführen werde.
Dieses Versprechen bereitete Teles derzeit schlaflose Nächte. Gerswind hatte das zehnte Lebensjahr erreicht. Widukind, dem stets wohlvertraut war, auf welcher Pfalz der König gerade weilte, befand sich bestimmt schon auf dem Weg nach Regensburg, jenem Ort, an dem sich Karl mit seiner Familie bereits seit einem Jahr aufhielt.
Teles schüttelte den Kopf, als er an das neueste aberwitzige Vorhaben des Königs dachte, der jetzt plante, zwischen Main und Donau einen riesigen Kanal ausheben zu lassen, um seine Truppen über den Rhein und diesen Wasserweg schneller ins Awarenland befördern zu können. Das würde ihn sicherlich noch einige Zeit in Bayern halten – falls es ihn nicht zwischendurch zu seiner anderen großen Baustelle in Aachen zog. Da sollte ein zweites Rom entstehen, hatte Karl verkündet. Aber eines mit nur einem Gott, dachte Teles, der schon seit Wochen Ausschau nach einem Boten hielt, der Widukinds Erscheinen ankündigte. Auch deshalb hatte er die verschleierte Frau so genau gemustert.
Weshalb nur wollte die Schwester des Königs unerkannt bleiben? Er wußte doch, wie nah sie ihrem Bruder stand – oder zumindest früher gestanden hatte – und daß ihm wahrscheinlich kein Gast willkommener sein konnte.
Teles spürte einen stechenden Schmerz. Würde seine Tochter Sophia heute noch leben, wenn sie mit Gisela nicht so eng befreundet gewesen wäre? Sophia, sein Augenstern, Mathilde, seine angebetete Ehefrau; beide waren zu Tode gekommen, weil Sophia in furchtbarer hoffnungsloser Liebe zu König Karl entbrannt war. All die Jahre, die Teles danach mit seiner Herrin, der Königinmutter Bertrada, in Prüm verbrachte, hatten nicht ausgereicht, den Kummer zu betäuben, den ihm der Tod der beiden geliebten Menschen bereitet hatte.
Bertradas Tod war eine andere Sache gewesen. Diese Frau, der so viele Prüfungen auferlegt worden waren, hatte bestimmt schon zu Lebzeiten das Menschlichsein überwunden und auf für ihn nicht ganz faßliche Weise das ewige Leben gewonnen. Schon als sie ihn aus dem Sklavenstand erhoben hatte, wußte er, daß sie auch noch einer anderen Welt angehören mußte. Es war ihm bestimmt, ihr zu dienen. Und ihre Kammerfrau zu heiraten. Jedermann hatte behauptet, seine Mathilde sei von ausnehmender Häßlichkeit gewesen. Das wurde, einer Tatsache gleich, sogar Teles mitgeteilt. Er war fassungslos, als er solches über den Menschen hörte, den er für den schönsten auf Erden hielt. Wer hatte eine feinere Haut als Mathilde gehabt, wer zärtlichere Hände, liebevollere Augen und ein größeres Herz?
Er zweifelte nicht daran, daß ihn Gisela auch nach so vielen Jahren erkannt hatte. Außerdem wäre ihr als Äbtissin von Chelles ein würdevoller Empfang gewiß gewesen. Weshalb also hatte sie sich als eine unbekannte Reisende verkleidet? Wie auch einst meine Herrin Bertrada, dachte Teles voller Wehmut und fragte sich, ob jetzt deren Tochter möglicherweise auch vor einem Los, übler als der Tod, floh.
»Welch eine Freude, dich zu sehen!« begrüßte Karl seine Schwester, nachdem er seine Berater weggeschickt hatte. Er hatte die Frau längst erkannt, bevor sie ihren Schleier hob, und das Herz hüpfte ihm vor Freude. Endlich
Weitere Kostenlose Bücher