Die Beutefrau
Botschaft scheinbar reglos entgegennahm.
»Jetzt ist alles dahin«, sagte er nur. »Laßt mich allein. Auch du, Gerswind, geh weg.«
Erschrocken blickte sie in das bleiche Gesicht des Kaisers. Gerade in dieser schweren Stunde bedurfte er doch ihres Beistandes und ihres Trostes! Aber er wandte sich wortlos ab und lenkte seine Schritte zur Pfalzkapelle. Sie verwarf den Gedanken, ihm ins Gotteshaus zu folgen, und beschloß an den einzigen Ort zu gehen, von dem sie sich selbst Hilfe erhoffte.
Lange kniete sie im Wald vor dem glatten weißen Stein. Sie konnte keine klaren Gedanken fassen, denn ein einziger Satz hämmerte in ihrem Kopf: Ich habe Pippin getötet.
Die Nacht legte sich schon über den Wald, als sich Gerswind endlich aus ihrer Starre löste. Sie erhob sich mit schmerzenden Gliedern, ging ein wenig umher und ließ sich dann auf jenem umgestürzten Baumstamm nieder, auf dem sie einst mit ihrer Mutter gesessen hatte.
Ihre Mutter. Der Fluch ihrer Mutter.
Ein einsames Alter hatte Geva Karl gewünscht, und der Weg dahin schien sich bereits deutlich abzuzeichnen. Mit einem Mal sprang Gerswind auf und starrte auf den weißen Felsen, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Dies war eine Stätte der Macht – aber was war das für eine Macht? Eine heidnische. An einer solchen Stätte hatte sie ihren Vater getroffen, die Stimme des sterbenden Teles vernommen und Ruhe zu finden geglaubt, wenn in ihr oder um sie herum Aufruhr geherrscht hatten. Doch an einer solchen Stätte hatte auch der bucklige Pippin seine Verschwörung geplant, nahe ihr war Hruodhaid das Geheimnis um ihre Abkunft enthüllt worden, und an genau dieser Stätte hatte sie vom Fluch ihrer Mutter erfahren. Zweifel keimten in ihr auf. War es wirklich recht, an einer solchen Stätte Kraft zu suchen? Welches Gute war ihr tatsächlich aus den Besuchen am weißen Felsen erwachsen? Könnte es sein, daß jener Gott, der alle anderen Götter in sich vereinte, sie schließlich für ihr nichtchristliches Tun bestrafte?
»Spiel nicht mit Gespenstern, auf daß du nicht selbst zu einem wirst«, hatte Teles sie immer wieder gewarnt und gemahnt, nicht leichtsinnig mit Kräften umzugehen, die jenseits des menschlichen Verstandes wirkten.
Gerswind strich über den weißen Stein und fuhr mit einem Finger die Zeichen nach, die dort vor langer Zeit hineingeritzt worden waren. Runen, die sie weder lesen noch deuten konnte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter.
Ein einsames Alter?
Nein, Mutter.
Die Schwere ihrer eigenen Schuld konnte Gerswind nicht abwägen. Auch die Stätte der Macht gab ihr darauf keine Antwort. Doch sie bedachte, daß sie zumindest einen Teil des Fluchs abwenden konnte, wenn sie dafür sorgte, daß Karl im Alter eben nicht einsam wurde. Das kleine Glück, das ihre Gegenwart dem Kaiser verschaffte, sollte ihm nie mehr abhanden kommen. Nie wieder würde sie von ihm fortgehen, nie wieder auch nur für kurze Zeit verschwinden und ihn der Einsamkeit überlassen.
Sie dachte daran, wie sich der Kaiser nach dem Tod seiner Kinder Rotrud und Pippin im Vorjahr von aller Welt zurückgezogen, sich selbst vernachlässigt und sich nicht mehr um die Staatsgeschäfte gekümmert hatte. Das durfte nach diesen beiden Todesfällen jetzt keinesfalls wieder geschehen. Sie würde bei ihm bleiben und sich auch nie wieder von ihm fortschicken lassen. Und sie würde nie wieder an die Stätte der Macht zurückkehren, schwor sie sich.
Gerswind stand an des Kaisers Seite, als er in der Pfalzkapelle für Karl den Jüngeren und Pippin den Buckligen Kerzen entzündete. Als er fragend vor sich hinmurmelte, was seine Kinder denn getan hätten, daß Gott sie so früh dem Leben entrissen habe, erinnerte sie ihn leise an die Antwort, die ihm Alkuin nach Liutgards Tod gegeben hatte. Was können die grünen Blätter dafür, daß sie am Erdboden liegen? Der Sturm, der Schößlinge mitnehme, reiße manchmal eben auch die Jungen aus dem Leben. Gerswind drängte ihn an die Arbeit, wenn er in den darauffolgenden Tagen mutlos alles von sich schob, und sie brachte ihn dazu, bei den Abendmahlzeiten wieder Musik spielen zu lassen. Wenn er sich nachts schlaflos umherwälzte, ließ sie entweder seine Berater aus ihren Betten holen, damit der Kaiser auf sie einrede und ihnen Erlasse diktiere, oder sie las ihm laut aus der Bibel vor. Sie setzte ihm Adeltrud auf den Schoß, ermutigte ihn, mit den jungen Kindern im Frauenhaus zu spielen und beim Unterricht der älteren in der Hofschule gelegentlich anwesend zu
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