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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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fing sich, tat, als wollte er sich den Reisemantel nicht von den Schultern nehmen lassen, und wehrte die Hilfe ärgerlich ab. Ohne ein Wort eilte er durch die Halle, in der es plötzlich so still geworden war, daß man die schweren Schritte des Kaisers auf der Treppe am anderen Ende deutlich vernehmen konnte.
    »Der König von Austrien ist schwer erkrankt«, brach der Hofmeister schließlich das Schweigen. »Es gibt keine Hoffnung mehr.«
    Gerswind wurde schwarz vor Augen. Wie von fern hörte sie den Hofmeister sagen, daß Karl der Jüngere wenige Tage zuvor nach Aachen geritten war, um seinen Vater zu begrüßen. Kurz nach seiner Ankunft hatte den neununddreißigjährigen König plötzlich Übelkeit erfaßt. Er klagte über große Schmerzen in Kopf und Hals. Heilkundige und Priester hatten nichts unversucht gelassen, mußten aber nach wenigen Tagen ihre Ohnmacht eingestehen. Den König von Austrien konnte jetzt nur noch ein Wunder retten.
    »Kann ich Euch helfen?« Eine Stimme nahe ihrem Ohr riß Gerswind aus ihrer Erstarrung. Sie schüttelte den Kopf, wandte sich um und floh aus dem Gebäude. Die Schmerzen, die sie nach der langen Reise soeben noch in den Knochen gespürt hatte, waren gänzlich verschwunden. Sie hatten einer anderen Pein Platz gemacht, die so ungeheuerlich war, daß Gerswind mit niemandem hätte reden und niemandem ins Gesicht hätte sehen können.
    Mit einem Mal war nämlich der Gedanke in ihr aufgekommen, daß den Kindern des Kaisers wohl kaum all das Unglück zugestoßen wäre, wenn sie, Gerswind, nie das Licht der Welt erblickt hätte. Dann wäre kein kleines Sachsenmädchen als Geisel an den Hof gekommen. Dann hätte deren Mutter nicht so verbissen gegen den Frankenherrscher gekämpft und ihn später nicht mit diesem grauenvollen Fluch belegt.
    An der Stätte der Macht kniete Gerswind wie schon so oft in ihrem Leben vor dem Felsen nieder und kühlte ihre heiße Stirn an dem glatten weißen Stein. Sie betete, rief Gott, Jesus, die Götter, die Ahnen und alle Heiligen an und flehte, den Fluch ihrer Mutter von Karl zu nehmen.
    Es mußte ein Wunder geschehen! Carolino durfte seiner Krankheit nicht erliegen! Voller Grauen dachte sie auch daran, daß sonst die Nachfolge geregelt wäre und ihr Feind Ludwig dereinst Kaiser werden würde.
    Ludwig! Steckte er etwa hinter der schweren Erkrankung des jungen Karl? Nein! Hier, an diesem heiligen Ort, durfte sie sich nicht mit der für sie naheliegendsten Erklärung zufriedengeben, sondern mußte sich mühen, das gesamte Bild zu sehen.
    Gerswind ging hart mit sich ins Gericht. Hatte sie Ludwig zuvor des Brudermordes verdächtigt, weil sie ihre eigene Geschichte, die in Gevas Fluch mündete, nicht als Ursache anerkennen wollte? Hatte sie einen Sündenbock gesucht? Oder einen Weg, um sich endlich an Ludwig zu rächen? Hatte der Haß sie verblendet? Gerswind schüttelte den Kopf. Alles hatte darauf hingedeutet, daß Ludwig in die so plötzlich aufeinanderfolgenden Todesfälle verwickelt war, zumindest in den Pippins, des Königs von Italien. Dabei war er möglicherweise nur unwissender Handlanger eines Schicksals, das Geva über Karl herabbeschworen hatte, selbst wenn Ludwig glauben mochte, Herr über seine Taten zu sein.
    Aber vielleicht war es nicht zu spät für ein Wunder. Vielleicht würde Carolino doch noch genesen und alles gut werden.
    Karl ließ zu, daß sie neben ihm am Bett des Sohnes wachte.
    »Du hast ein Recht darauf«, flüsterte der Kaiser Gerswind zu. »Du bist der einzige Mensch, den er geliebt hat, die einzige Frau, der er je beigewohnt hat.«
    Erst einige Augenblicke später drang zu Gerswind durch, was ihr Karl mit seinen Worten soeben mitgeteilt hatte. Und nun begriff sie auch, weshalb er nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht nie ein Wort darüber verloren hatte, daß sie ganz offensichtlich nicht mehr unberührt gewesen war. Sie öffnete den Mund, schloß ihn aber sofort wieder. Sie konnte Karl unmöglich die Wahrheit verraten.
    Carolino schien schon fast in die andere Welt hinübergeglitten zu sein. Er rührte sich nicht, hielt die Augen geschlossen und atmete schwach. In den frühen Morgenstunden der dritten durchwachten Nacht kam mit einem Mal ein leiser Laut vom Bett. Gerswind beugte sich über den Kranken und sah im schwachen Licht der Öllampe, daß er die Augen halb geöffnet hatte.
    »Karl!« flüsterte sie erregt und schaute zum Kaiser. Doch der war vor Erschöpfung in seinem Stuhl zusammengesackt und schlief tief und

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