Die Beutefrau
größer. Und mit einem Mal begriff sie, weshalb ihr Leben in Gefahr war. Das hatte nichts mit Fardulf und der Übermittlung schlechter Nachrichten zu tun, sondern einzig damit, daß sie Widukinds Tochter und eine Geisel am Königshof war. Schnell senkte sie wieder die Lider. Pippin sollte sie nicht für dumm halten.
»Ich meinte es ernst, als ich sagte, daß du unter meinem Schutz stehst«, fuhr Pippin fort. »Mein Vater …«, er spie das Wort beinahe aus, »… mag es für rechtens halten, Kindern die Sünden der Eltern anzulasten, ich tue das nicht.« Er streckte eine Hand aus. »Willst du mit mir kommen, Gerswind?«
»Wohin gehst du?« fragte sie schüchtern, als sie etwas zögerlich seine Hand ergriff.
»Nach Prüm. Mein Vater hat mich zur Strafe in die dortige Abtei verbannt. Du begreifst also, Gerswind, daß diese Männer …«, er deutete hinter sich, »… meine Wächter sind. Sie passen auf, daß ich ihnen nicht davonlaufe.« Er lachte bitter. »Aber wo sollte ich jetzt noch hin? Und wo wolltest du eigentlich hin?«
»Nach Norden«, antwortete Gerswind. Vorsichtig löste sie ihre Finger aus der Hand des jungen Mannes. So verlockend sein Angebot auch war, es widersprach ihrem Ehrgefühl, sich von dem Mann helfen zu lassen, den sie verraten hatte.
»Der Norden ist groß«, entgegnete Pippin, »und im Gegensatz zu uns wird er immer da bleiben, wo er ist. Hältst du es also nicht für vernünftiger, dich erst dann auf die Suche nach deinen Leuten zu begeben, wenn du ein bißchen größer geworden bist?«
Gerswind erschrak. Er konnte offensichtlich wirklich in ihr Herz hineinsehen. Wie hätte er sonst ihren geheimen Plan kennen können? Vielleicht wußte er sogar noch mehr.
»Kannst du mir sagen, was mit meiner Mutter geschehen ist?« fragte sie ihn atemlos.
Pippin hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Da gibt es viele Gerüchte. Manche sagen, daß sie tot ist, andere, daß sie deinen Vater verlassen hat und zu den Nordleuten zurückgekehrt ist. Wieder andere behaupten, daß sie den erneuten Sachsenaufstand anführt. Glaub mir, Gerswind …«, er hockte sich so hin, daß er ihr gerade ins Gesicht sah, »… du kannst auf keinen Fall weiter allein durchs Land ziehen. Dafür bist du doch noch viel zu klein. Komm lieber mit mir nach Prüm. Ins Kloster kann ich dich zwar nicht mitnehmen, aber bei irgendwelchen Bauern werde ich dich schon unterbringen können. Und du wirst unterwegs geschützt sein, denn die Leute des Königs werden diesen Zug bestimmt nicht anhalten.«
Gerswind hatte keine Wahl. Sie begriff, daß Pippin sie nicht allein im Wald zurücklassen würde, und sie gestand sich ein, daß sie für den angebotenen Schutz dankbar war. Da mußte die Ehre vorerst zurückstehen.
Sie hatte keine Ahnung, wo im großen Frankenreich der Ort Prüm lag, wußte nur, daß in dieser Hausabtei des Königshofs eine der kostbarsten Reliquien, die Sandale Jesu, aufbewahrt wurde, die König Karls Vater, König Pippin, einst aus Rom mitgebracht hatte. Und sie sah ein, daß der Königssohn recht hatte. Solange sie nur ein Kind war, konnte sie nichts ausrichten, und als flüchtige Geisel würde sie nicht lange überleben können. Da war es doch entschieden besser, auf Pippins Vorschlag einzugehen.
Vater Assuerus, der Abt der königlichen Hausabtei zu Prüm, begrüßte Pippin mit großer Herzlichkeit. »Es wird dich nicht reuen, mein Sohn, daß du dich für das Klosterleben entschieden hast«, sagte er, als wäre Pippin aus freien Stücken in die Abtei gekommen. »Morgen werden wir dich scheren und ankleiden, heute feiern wir erst deine Ankunft.« Der Blick des hageren alten Mannes fiel auf Gerswind.
»Wer ist denn deine kleine Begleiterin?«
»Sie stammt aus dem Norden. Wir haben sie auf dem Weg hierher im Wald gefunden und mitgenommen. Ihre Eltern sind tot, und sie hat sonst niemanden, der sie aufnehmen kann. Vielleicht wißt Ihr ja von Bauern, denen sie zur Hand gehen kann?«
»Diese Abtei hat eine gewisse Tradition im Aufnehmen vermeintlich heimatloser weiblicher Geschöpfe«, sagte der Abt mit leichtem Schmunzeln. »Das ist den beiden Bertradas, deiner Großmutter sowie deren Großmutter, zu danken.« Weil deine Großmutter hier einst selbst als heimatloses Geschöpf angeklopft hat. Doch dies sprach er nicht aus, da er König Karl sein Wort gegeben hatte, niemals etwas über jene Jahre verlauten zu lassen, die Bertrada vor ihrer Eheschließung in Prüm verbracht hatte. Er selbst war damals noch nicht
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