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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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entfernt herumgesprochen hatte, dann war sie wahrlich ernstlich bedroht.
    Sie durfte keinem Menschen mehr vertrauen, und sie mußte darauf achten, so wenigen wie möglich zu begegnen. Aber wie sollte sie ihren Vater oder andere Mitglieder der Sippe finden, wenn sie niemanden befragen konnte? In der Hofschule hatte Alkuin sie gelehrt, sich einer schwierigen Frage langsam zu nähern, zunächst alle Kenntnis über das entsprechende Thema zu sammeln. Doch das war in Gerswinds Fall wenig genug. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, daß ihr Bruder Wigbert in einem westfälischen Kloster erzogen wurde. Dort konnte sie nicht hin. Ihre Schwester Heilwig sollte den Grafen Welf von Altdorf heiraten. Selbst wenn sie sich bis nach Altdorf durchschlug, war immer noch höchst ungewiß, ob Heilwig und ihr Gemahl, immerhin ein Vasall Karls, sie vor Verfolgung schützen würden. Nirgendwo stand geschrieben, daß Geschwister einander zu lieben und zu helfen hatten. An Karls Hof hatte sie tagtäglich beobachten können, wie sein Sohn Ludwig den Schwestern das Leben so schwer machte, wie er nur konnte. Er meldete dem Vater und den Lehrern jegliche Verfehlung und genoß es sichtbar, wenn die Strafen streng ausfielen.
    »Gott sei gepriesen, daß dieser Wurm nie König aller Franken werden kann«, hatte Rotrud mehr als einmal gerufen. Karl der Jüngere würde möglicherweise ein solcher König werden, Gerswinds Carolino, das hatte sein Vater dadurch angedeutet, daß er ihm als einzigem seiner Söhne bisher noch kein Königreich überlassen hatte. Am Hof wurde bereits gemunkelt, daß Karl – anders als sein Vater und Großvater – sein Reich nicht zu gleichen Teilen seinen Söhnen vererben, sondern seinem gleichnamigen Sohn mehr Länder hinterlassen wolle als Pippin und Ludwig. Bei dem Gedanken an den hübschen Königssohn, der immer ein freundliches Wort für sie übrig gehabt hatte, stiegen Gerswind wieder Tränen in die Augen. Ob sie ihn je wiedersehen würde? Sie riß sich zusammen. Alkuin hatte stets davor gewarnt, sich beim Nachdenken über ein Problem auf Ab- und Seitenwege zu begeben. Aber der Hauptweg war versperrt: Gerswind wußte sonst schließlich nur noch, daß ihre Mutter vielleicht tot war. Über seinen eigenen Aufenthaltsort hatte ihr Vater nichts verlauten lassen. Wie dumm, daß sie die Gelegenheit versäumt hatte, ihn gründlich auszufragen! Und warum hatte sie nicht darauf bestanden, Gewißheit über das Schicksal ihrer Mutter zu bekommen!
    Inzwischen hatte sie den Waldrand erreicht und sah zu ihrer Freude einen schmalen Weg zwischen den Bäumen. Die untergehende Sonne verriet ihr, daß er nach Norden führte. Dies schien ein günstiges Zeichen zu sein. Sie sah sich den Pfad genauer an. Spuren wiesen darauf hin, daß vor gar nicht langer Zeit eine Vielzahl von Menschen und Tieren – wahrscheinlich Pferde, denn sie erkannte auch die Eindrücke von Hufen und Rädern – diesem Weg gefolgt waren. Eine so große Gruppe hatte ein Ziel jenseits des Waldes. Diesen Spuren wollte sie folgen.
    Als die Dunkelheit hereinbrach, legte sie sich nahe dem Pfad am Fuß einer Eiche ins Moos. Donar würde ihren Schlaf bewachen, Saxnot wilde Tiere und böse Menschen von ihr fernhalten. Jesus war sowieso bei ihr, denn er sorgte doch dafür, daß Kindern nichts Übles widerfuhr. Lasset die Kindlein zu mir kommen. Sicherheitshalber sprach sie noch ein christliches Gebet, bat Gott um Verständnis, daß sie in ihrer jetzigen Lage auch die Hilfe anderer höherer Wesen in Anspruch nahm, und gelobte, weiter nichts zu tun, was ihn verärgern könnte. »Baum unter Bäumen«, flüsterte sie und schlief ein.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, war sie zunächst verwirrt. Wieso hatte ihr Hruodhaid in dieser Nacht im Schlaf nicht in die Seite getreten? Sie nicht ein einziges Mal mit einer ihrer unruhigen, staksigen Bewegungen gestört? Sie öffnete die Augen und blickte ins Blätterdach des Waldes. Auf einmal hellwach, setzte sie sich auf. Sie hatte Hunger. Die paar verschrumpelten Heidelbeeren und vereinzelten Pilze, die sie in der näheren Umgebung fand, reichten nicht aus, um sie satt zu machen.
    »Alles zum Leben und Sterben schenkt der Wald«, hatte Karl öfter gesagt. Mit Rotrud hatte sie sich heimlich darüber lustig gemacht, daß der König so großen Wert auf die Kenntnis von Eßbarem in freier Natur legte, obwohl sich doch in der Speisehalle die Tische vor lauter lecker zubereiteten Gerichten bogen. Jetzt war sie dankbar für diese Lehren.

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