Die Beutefrau
Sie wußte, welche Pilze und Pflanzen sie meiden mußte und welche nur gekocht genießbar waren. Aber die Trockenheit des Sommers hatte auch nicht vor den Waldfrüchten haltgemacht, und so fand sie nur wenig, um ihren Hunger zu stillen.
Ihre Freude war daher um so größer, als sie beim Weitergehen auf das verlassene Nachtlager der Gruppe stieß, deren Spur sie durch den Wald folgte. Sie nagte verkohlte Fleischreste von achtlos weggeworfenen Knochen, fand gar noch ein Stückchen eines Brotkantens. Sorgsam wischte sie die quirligen Ameisen und Käfer von den kostbaren Speiseresten, und als sie in der Asche herumstocherte, entdeckte sie eine Waldknolle, die in der Glut gar geworden war. Sie biß hinein, spuckte die verbrannten Teile aus und merkte, daß das weiße Innere süß und köstlich schmeckte – und sie endlich ordentlich sättigte. Außer dem Tau, den sie von den Blättern leckte, gab es nichts, um ihren Durst zu stillen. Doch sie war zuversichtlich, daß die geheimnisvolle Gruppe den Weg kannte und irgendwann einen Wasserlauf aufsuchen würde.
Das Wissen um Menschen, die ihr vorausgingen, stimmte sie fast heiter. Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Und tatsächlich stieß sie schon am Mittag auf einen Bach, aus dem sie ausgiebig trinken konnte.
»Danke, ihr Fremden!« rief sie übermütig den Spuren zu, denen sie unverdrossen weiterfolgte. Solange sie diese Fährte hatte, fühlte sie sich sicher. Auch am nächsten Morgen labte sie sich an den Resten des Nachtmahls der anderen. Ewig könnte es so weitergehen, dachte sie und übersah dabei, daß ein behendes Kind allemal schneller laufen konnte als eine Gruppe vieler Menschen.
Der Wind kam aus ihrer Richtung, und so hörte sie die Stimme nicht, die rief: »Halt ein, ein Tier!«
Der Pfeil zitterte knapp vor ihr im Waldboden. Gerswind blieb entsetzt stehen und vergaß vor lauter Schreck, zum Baum zu werden.
»Ein Kind! Wo kommt das her?«
Jetzt konnte Gerswind den Mann sehen, der durch das Gebüsch strich. Sie versuchte zu flüchten. Doch er war schneller, holte sie ein und warf sie zu Boden.
»Was suchst du hier im finsteren Tann?« fragte er scherzend. »Mein Pfeil hätte dich beinahe getroffen!«
Schon die Bemerkung ›finsterer Tann‹, die sie an Fastrada gemahnte, hätte genügt, um in Gerswind Panik aufkommen zu lassen. Sie versuchte sich loszureißen, strampelte mit den Beinen und biß dem Mann in die Hand.
»Ich sagte es doch: ein wildes Tier«, gab er zurück und schlug ihr ins Gesicht, damit sie Ruhe gab. Gerswind schloß die Augen und ergab sich in ihr Schicksal.
»Das wilde Tier steht unter meinem Schutz«, erklang eine Stimme, die Gerswind irgendwie vertraut vorkam. Langsam öffnete sie die Augen. Das schöne Gesicht Pippins, den man den Buckligen nannte, näherte sich ihrem. Sie glaubte, nicht richtig zu sehen, als er ein Auge zukniff, bevor er sich wieder an seine Gefährten wandte.
»Wißt ihr Einfältigen nicht, daß Waldkinder Reisenden Glück bringen!« rief er. Betroffen beugten die anderen, die sich mittlerweile genähert hatten, die Köpfe.
»Laßt mich einen Moment mit diesem Wesen allein, damit ich seine Absichten in Erfahrung bringen kann«, fuhr er fort. »Dann werden wir entscheiden, wie mit diesem Geschöpf weiter zu verfahren ist.«
Die anderen zogen sich zurück.
»Gerswind«, flüsterte Pippin, »was machst du denn hier?«
Der Mann, der an der Stätte der Macht kaltblütig den Tod des gesamten Herrscherhauses geplant und ihren eigenen dabei in Kauf genommen hatte, lebte und verfügte sogar noch über Autorität! Der Mann, dessen Kopf sie in den vergangenen Tagen immer wieder vom Rumpf hatte rollen sehen, stellte sie jetzt unter seinen Schutz! Das verschlug Gerswind beinahe die Sprache. Aber nur beinahe.
»Ich bin weggelaufen«, gab sie leise zu.
»Ja, dafür bist du hinlänglich bekannt. Aber weshalb denn diesmal so weit weg?« fragte Pippin amüsiert.
»Weil …«, und da fielen ihr die Worte ein, die er an der Stätte der Macht selbst gesprochen hatte, »… mein Leben verwirkt ist.«
Pippin musterte das verschmierte kleine Gesicht, das von wirren schmutzigen Haaren umrahmt war. Gerswind erschien es, als ob er ihr bis ins Herz hineinblicken könnte. Und das kam ihr in diesem Augenblick ganz klein und schrumpelig vor.
»Ja«, sagte er. »Das ist eine ganz schlimme Sache. Dabei ist es doch nicht deine Schuld, daß sich die Sachsen wieder erhoben haben.«
Gerswinds hellblaue Augen wurden eine Spur
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