Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
zu Ende und fügte hinzu: »Ich danke dir, Lindmuth, daß du in seiner letzten Stunde bei ihm warst.«
    Wieder verneigte sich die Magd voller Ehrfurcht vor Gerswind. Keiner am Hof wußte noch, daß die alte Dienerin beim ersten Sachsenfeldzug des Königs als Geisel genommen worden war. Wie so viele andere auch gehörte Lindmuth schon seit langen Zeiten zum Inventar des Hofs und galt als gute Christin, die regelmäßig die Messe besuchte und für die Heiligen Kerzen entzündete. Daß sie Sankt Georg stets zwei weihte – eine für den Heiligen und eine für seinen Drachen –, behielt sie allerdings für sich. Denn tief in ihrem Herzen bewahrte sie die Erinnerung an den Glauben ihrer Jugend. Sie hatte lange um ihre gestorbenen Götter getrauert, bis sie vor vielen Jahren heimlich beobachtet hatte, wie der Referendarius Martinus Teles mit der Tochter Widukinds im Wald ein uraltes Ritual ausgeführt hatte. Als sie danach erstaunt feststellte, daß ihnen der Christengott diesen Frevel nicht mit Krankheit und Verderben vergalt, keimte Zuversicht in ihr auf, daß die alten Götter doch noch lebten und im verborgenen wirkten. Seit jener Zeit verehrte sie Teles als heiligen Mann und Gerswind als Hoffnungsträgerin für ihr Volk und hatte auch ihren Sohn angehalten, dem ungleichen Paar Ehrfurcht entgegenzubringen. Sie wunderte sich keinesfalls, daß Gerswind und Teles in der Todesstunde des Griechen über eine Tagesreise hinweg miteinander in Verbindung getreten waren; das gehörte sich so, und es war gut.
    Am Hof wurde viel darüber getuschelt, daß die junge Frau, die eigens wegen des Referendarius aus Saint Riquier nach Aachen geeilt war, keine einzige Träne um den Mann vergoß, der sich ihrer so viele Jahre lang angenommen hatte und dessen letzte Worte ihr gegolten hatten.
    »Nicht einmal ordentlich trauern können diese Sachsen!« erklärte Ludwig nach der Rückkehr der Königsfamilie im Akademiezimmer. »Da sieht man wieder, was für ein unchristliches, verlogenes und herzloses Volk sie sind!«
    Gerswind blieb still auf ihrer Bank sitzen und verzog keine Miene. Ludwig hatte in einem Punkt wohl leider recht. Sie hatte kein Herz. Etwas Ähnliches hatte sie schon auf der Reise nach Aachen befürchtet, als sie Carolino nicht die Gefühle entgegenbringen konnte, die sie einst zu haben geglaubt und jetzt auch gern verspürt hätte. Und nun trauerte sie nicht um Teles. Das beunruhigte sie, weil sie selbst nicht wußte, weshalb sie sogar zu dieser Regung unfähig war. Sie konnte nur daran denken, wie glücklich sie darüber war, daß es ihn in ihrem Leben gegeben hatte, daß er jetzt in der vollkommenen Welt weilte und nicht mehr leiden mußte.
    »Du urteilst sehr streng, mein Sohn«, sagte Karl ungewöhnlich sanft. »Es gibt aber tatsächlich Menschen, die ihre Trauer nicht zur Schau stellen.«
    Er schwieg einen Augenblick, wissend, wie unbehaglich es denen im Raum zumute sein mußte, die sich noch genau an sein eigenes Verhalten nach Fastradas Tod erinnern konnten. »Vielleicht trauert Gerswind auch gar nicht«, fuhr er ernst fort.
    »Sag ich ja!« trumpfte Ludwig auf. »Heidnische Herzlosigkeit …«
    »Still!« wies Karl ihn zurecht. »Ich habe noch nicht ausgesprochen!«
    Ludwig hob in gespielter Verzweiflung die Hände.
    »Vielleicht trauert Gerswind deshalb nicht«, wiederholte der König nachdenklich, »weil sie nicht selbstsüchtig darüber jammert, daß ihr ein Mensch weggenommen wurde, sondern weil sie glücklich darüber ist, ihn überhaupt gekannt und geliebt zu haben. Weil sie weiß, daß er jetzt bei unserem Herrn im Himmel weilt. Teles war ein ganz besonderer Mann, und ich glaube, daß unsere Gerswind in der Lage ist, sein Leben zu würdigen, anstatt sein Sterben zu beklagen. Sie zeigt hier einen Seelenadel, der nur wenigen gegeben ist und vor dem ich mich in aller Demut verneige.«
    Was er dann auch tat.
    »Interessanter Aspekt«, murmelte Angilbert, der dem Hof das Geleit von Saint Riquier nach Aachen gegeben hatte.
    Karls Geste und Worte trafen Gerswind genau dort, wo sie zuvor nur Leere befürchtet hatte. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Endlich wußte sie, weshalb sie nicht hatte weinen können. Sie hatte doch ein Herz! Und das war nicht voller Trauer, sondern von unendlicher Dankbarkeit erfüllt. Der König kannte sie besser als sie sich selbst!
    Entrückt stand sie auf und ging auf Karl zu. Der erhob sich ebenfalls aus seinem feingeschnitzten Holzsessel und breitete die Arme aus. Wortlos ließ sie

Weitere Kostenlose Bücher