Die Bibel
versteckt haben, was sie denken und tun, was sie reden, fürchten und hoffen, was sie vorhaben, all das wissen wir nicht. Die Evangelien schweigen davon.
Man kann sich aber vorstellen, was in ihnen vorging. Sie waren ja alle Juden. Als solche teilten sie mit ihren Zeitgenossen die damals in Umlauf befindlichen Vorstellungen von einem Messias . Was die Jünger von den anderen unterschied, war nur der Glaube, dass Jesus der von allen ersehnte Messias sei.
Deshalb, und weil sie hofften, dass er die für einen Messias typischen Wundertaten vollbringen werde – Vertreibung der Römer, Gericht über die Guten und Bösen, Schaffung eines Gottesreiches in Macht und Herrlichkeit –, hatten sie ihren Beruf aufgegeben, sich Jesus angeschlossen und Armut, Hohn und Spott ertragen. Dafür erwarteten sie, mit einer privilegierten Stellung im neuen Reich belohnt zu werden.
Dieser Traum war jetzt ausgeträumt. Jesu Hinrichtung als Schwerverbrecher, der Tod am Kreuz, das war das Schändlichste, was passieren konnte. Ein schlimmeres Ende war nicht mehr vorstellbar. Sie mussten gedacht haben: Wir waren Idioten. Wir sind einem Phantom aufgesessen.
Darum hockten sie in ihren Verstecken und blickten verzweifelt einer hoffnungslosen Zukunft entgegen. Nur ein Wunder hätte sie noch retten können. Den Glauben an Wunder aber hatten sie verloren, und den Glauben an Jesus, den Messias, auch. Wenn er tatsächlich der Messias gewesen wäre, hätte sich ein Wunder längst ereignet haben müssen, oben auf dem Hügel namens Golgatha.
Dort hing ihr Herr und Meister, mit einer Dornenkrone aufdem Kopf und einem Schild darüber mit der Aufschrift «König der Juden», dem Gelächter und Gespött des Pöbels freigegeben. Etliche derer, die vorübergingen, spotteten, er solle doch einfach von seinem Kreuz herabsteigen, wenn er der Messias sei. Die obersten Priester und Schriftgelehrten sagten: «Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.»
Nicht anders dachten die Jünger. Da es keine Wunder gab, nicht einmal das geringste Zeichen, konnte der Gekreuzigte nicht der Messias sein.
Die Kirche: Gottes unerfüllte Hoffnung
Der Auftrag
Hatten die Jünger nach dem Tod Jesu Kontakt untereinander? Haben sie versucht, mit ihrer Enttäuschung fertig zu werden? Die Evangelien erzählen nichts davon. Stattdessen warten sie mit einer Geschichte auf, die alles, was vorher gewesen ist, in den Schatten stellt: Jesu Auferstehung am Sonntag nach der Kreuzigung, vierzig Tage später die Himmelfahrt, fünfzig Tage danach die Ausgießung des Heiligen Geistes, Pfingsten.
Angesichts solcher Ereignisse ist der Jünger Katzenjammer, dem sie sich drei Tage lang ergeben hatten, nicht der Rede wert. Darum reden sie nicht mehr davon, deshalb erfahren wir nichts. Darum kommt in der Bibel nach dem Tod gleich die Auferstehung. Für uns ein bisschen zu früh.
Wir Krisengeschüttelten, wir modernen orientierungslosen Zeitgenossen sollten noch eine Weile versuchen, ohne die «Hypothese Auferstehung» auszukommen, die uns allergrößte Schwierigkeiten bereitet. Versuchen wir zunächst, uns vorzustellen, dass es keine Auferstehung gegeben hat am dritten Tag, sondern vierzig, fünfzig Tage lang nichts anderes geschah als Krisenbewältigung bei den Jüngern und bei Jesu Anhängern. Wie könnte diese Krisis verlaufen sein?
Es lohnt sich zu spekulieren: Zunächst haben sich Jesu Anhänger einzeln oder in Grüppchen aus Angst vor der römischen Supermacht irgendwo versteckt, dann vorsichtig die Fühler ausgestreckt, um herauszufinden, ob sie von den Römern gesuchtwerden. Als sich herausstellte, dass für die Römer der Fall erledigt ist, wagten sich die ersten, vermutlich die mutigeren Frauen, heraus aus ihren Verstecken. Die Frauen sagten dann: Lasst uns zusammenkommen und miteinander reden. Und sie treffen sich irgendwo. Eine geschlagene, ängstliche Truppe aus lauter Versprengten sammelt sich zum ersten Mal nach dem Tod dessen, den sie für den Messias gehalten hatten.
Es muss eine traurige Veranstaltung gewesen sein. Wahrscheinlich ist nicht mehr dabei herausgekommen als der mit knapper Mehrheit, unter heftigem Zureden der Frauen gefasste Beschluss, sich erneut zu treffen. Man trifft sich also wieder und hört auf, sich gegenseitig anzufrusten. Sie erzählen einander, wie sie die letzten Tage verbracht, was sie erlebt, gefühlt und gedacht haben. Sie fragen sich, warum alles so gekommen ist. Sie fragen sich, wie es nun weitergehen solle.
Wie soll es schon
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