Die Bibel
Kerze in der Kirche.
Die Angst vor wirtschaftlicher Not durch Alter und Krankheit lehrte nicht mehr beten, sondern planen und vorsorgen durch den Abschluss entsprechender Versicherungen. Die Armen und Ausgebeuteten verließen sich nicht mehr auf Almosen und die christliche Nächstenliebe der Reichen, sondern besannen sich auf ihre eigene Kraft, kämpften in Gewerkschaften und Parteien für soziale Gerechtigkeit, und seitdem geht es ihnen viel besser. So kamen immer mehr Menschen zu der Überzeugung, dass sie der «Hypothese Gott» nicht mehr bedürften, und der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte das längst formuliert mit seiner These vom «Tod Gottes».
Was die christlichen Prediger mehr als tausend Jahre lang nur verheißen und ins Jenseits verlegt hatten – die klassenlose Gesellschaft,Wohlstand für alle, Freiheit und Brüderlichkeit –, das wollten dann die Kommunisten bereits im Diesseits und sofort. Sie schafften es nicht, verlegten das versprochene Paradies schon bald in eine ferne Zukunft, während der real existierende Sozialismus stets mehr der Hölle glich als einem Paradies. Aber die ausgebeuteten, verelendeten Arbeiter waren für die Kirche verloren. Und diese merkte es zunächst nicht einmal, weil sie gar zu eng mit dem Kaiser, dem Adel, dem Reichtum und der Macht verbandelt war.
So geriet die Kirche seit der Reformation, noch mehr seit der Aufklärung, zunehmend in die Defensive. Ein heftiger, sich im Verlauf von Jahrhunderten verstärkender Hagel aus Religions-, Christentums-, Kirchen- und Bibelkritik prasselte auf die Kirchendächer nieder und erzeugte darunter eine Wagenburg-Mentalität. Die Kirche meinte, die Kritik an ihr, die Aufklärung und das Emanzipationsstreben der Menschen bekämpfen zu müssen, erkannte nicht die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes, nicht das Positive an der Aufklärung und nicht, dass sie selber sowohl durch ihre Herkunft, Lehre und Tradition wie auch durch ihr Versagen in der Geschichte die Hauptverursacherin der von ihr bekämpften Entwicklung war.
Als die Wagenburg zerschossen war, wagten sich als Erste die Theologen heraus, traten die Flucht nach vorn an und mühten sich redlich, sich nicht mehr nur vor Gott und der Kirche zu rechtfertigen, sondern auch vor der Vernunft und der Welt. Sie verloren den Respekt vor der Bibel als einem heiligen, unantastbaren und unhinterfragbaren Text und begannen, ihn wissenschaftlich zu sezieren wie jeden anderen Text.
Die Bibel ist Gottes Wort, aber vermittelt durch Menschenwort, und darum darf, ja muss es mit wissenschaftlichen Mitteln hinterfragt, kritisiert, ausgelegt und interpretiert werden. Darin sind sich fast alle christlichen Theologen einig. Wenn islamische Theologen auch schon so weit wären, wäre vieles einfachermit den islamischen Ländern und den in Europa lebenden Muslimen.
Als die christlichen Theologen die heiligen Texte plötzlich kritisch untersuchten, entdeckten auch sie in der Bibel die vielen Widersprüche, auf die vor ihnen schon etliche Aufklärer hingewiesen hatten, und mussten zugeben, dass es wohl stimmte, was die Spatzen längst von den Dächern pfiffen: Die Bibel ist nicht das vom Himmel gefallene heilige Buch, für das viele es gehalten haben. Normale Menschen haben diese Texte geschrieben, und ihnen ist beim Schreiben nicht vom Allerhöchsten die Feder geführt worden, sondern von dem, was in ihren Köpfen steckte, und das war, damals wie heute, zeitbedingt, begrenzt, irrtumsanfällig.
Es war nun also auch in der Theologie legitim zu fragen: Hat Jesus wirklich Tote auferweckt? Ist er wirklich übers Wasser gegangen?
Solche Fragen waren es, die den Theologen Rudolf Bultmann umgetrieben haben. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erklärte er, als Mensch des 20. Jahrhunderts könne man nicht elektrisches Licht, Radioapparat und die moderne Medizin beanspruchen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben, geschweige denn an Horoskope, Magie oder Hokuspokus.
Bultmann fand, dem modernen Menschen sei es nicht länger zuzumuten, die christlichen Mythen wörtlich zu nehmen. Daher versuchte er, das Neue Testament von allen Mythen zu befreien, um so zum überzeitlich gültigen Kern der christlichen Botschaft vorzustoßen und diese zugleich für den modernen Menschen zu retten.
Sein Rettungsversuch bestand im Abwurf des für ihn überflüssigen mythischen Ballasts der Bibel. Ballast war für ihn die Einteilung der Welt in die drei Stockwerke
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