Die Bibel für Eilige
nicht begreift, dass der »Turmbau« unmittelbar mit Kernenergie oder Genforschung im Jahre 2001 verbunden ist, hat
nichts verstanden …
Zunächst wird man klar zu unterscheiden haben zwischen vielfältigen literarischen Formen. Wenn man sie nicht unterscheidet,
kommt man zu falschen Schlüssen, denn eine bestimmte Form verlangt auch eine bestimmte Hermeneutik, jene Kunst des Verstehens
geschichtlicher Texte. Eine Form wurde nicht umsonst gewählt, um etwas adäquat auszudrücken. Vor allem in den letzten zweihundert
Jahren wurde die Bibel von so genannten religiösen Fundamentalisten genauso wörtlich genommen wie von atheistischen Fundamentalisten,
nämlich eins zu eins. Was da steht, sei so, wie es da steht, »die Wahrheit«. (Beispiel: Die Genealogie von Adam bis Jesus
nachgerechnet, machte eine Summe von etwa 6500 Jahren. Das ist naturwissenschaftlich falsch. Die australischen, die afrikanischen
Knochen beweisen es. Solches Verständnis wäre sowohl eine religiöse wie eine intellektuelle Sackgasse. So lässt sich Bibel
von anderen trefflich erledigen, zu den Akten legen.)
Den Theologen kann man den Vorwurf nicht ersparen, dass sie auf »Weltall – Erde – Mensch«-Attacken mit ihrer an Plumpheit
kaum zu übertreffenden Frage, ob der Mensch von Adam oder von Affen abstamme, im Ganzen ziemlich hilflos reagiert haben. Das
betraf insbesondere die Schöpfungsgeschichten Genesis 1–2. Wer diese als realistischen – in unserem Sinne realistischen –,
also als historischen oder gar naturwissenschaftlichen Bericht liest, kommt nicht nur zu falschen Ergebnissen, sondern er
hat nichts verstanden, weil dies kein adäquater Zugang zu ihrer Wahrheit ist. Das Dramatische daran ist, dass der, der nichts
verstanden hat, |56| nicht weiß, dass er nichts verstanden hat und eine Sache ablehnt oder ins Reich des Märchenhaft-Abergläubischen und Unwissenschaftlichen
verdammt, weil er nichts verstanden hat. Dieses Nicht-Verstehen und diese Dummheit ist auch heute noch mehrheitsfähig.
Da lese ich in der BILD-Zeitung, dass die Container-Menschen – Staffel 2 – 100 Stunden Bibel lesen sollen – als Strafe, als
Gaudi, als Selbsterkenntnisquelle, als Mission, als Teil der Leitkultur? BILD weiß es: Als Antwort auf die herbe Kritik des
Papstes an der Show. Bibellesen als Bestandteil der FUN-Kultur.
Als sich Anfang der siebziger Jahre Franz Fühmann der Frage nach dem Mythos und seiner Interpretation annahm, insbesondere
in seiner Vorlesung an der Humboldt-Universität in Berlin »Das mythische Element in der Literatur« (1974), und seit er in
seinem Buch »Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel« (1978) auf vergnügliche, einfache und tiefgründige Weise die
ganz eigene Wahrheit der Sprache zur Sprache zu bringen vermochte und dabei den Mythos zu neuen Ehren brachte, regte sich
ein neuer Zugang zu den alten Texten.
In seinem Essay »Meine Bibel. Erfahrungen« schreibt Fühmann:
»Ich begann die Geschichten der Bibel zu lesen: Ein Riß; und der Abgrund Mensch klaffte auf … Ich las gierig wie nie. – Das
Sensationelle der Wörter war bald verdampft; was blieb, war das Sensationelle der Seelen, das doch nichts als das Alltägliche
war. – Was ich da aus der Bibel sog, war nicht das, was man sexuelle Aufklärung nennt, wiewohl sie auch die nebenbei so leistete,
wie man etwas nebenbei leisten kann. Diese Geschichten machten sich nicht anheischig, das Geheimnis des Geschlechts aufzulösen,
sie sprachen aus diesem Geheimnis heraus. Sie machten sich überhaupt nichts |57| anheischig, sie schienen, diese Geschichten, durchaus das nicht zu haben, was ›Anliegen‹ heißt, sie wollten nichts anderes
als erzählen, was sich mit einem Volk zugetragen, offen, ungeschminkt, radikal, ehrlich: So handelt der Mensch, und nun sieh
du dich an!«
Wie tiefgründig hatte schon Heinrich Heine über die biblische Wahrheit reflektiert – und war in der DDR-Propaganda als ein
scharfzüngiger Kirchenvater aller Atheisten benutzt worden, als ob es nur das Wintermärchen gäbe und die Zeile »den Himmel
überlassen wir den Engeln und den Spatzen«. Heine schrieb 1830 auf Helgoland: »– – Da gestern Sonntag war und eine bleierne
Langeweile über der ganzen Insel lag und mir fast das Haupt eindrückte, griff ich aus Verzweiflung zur Bibel … und ich gestehe
es dir, trotzdem, dass ich ein heimlicher Hellene bin, hat mich das Buch nicht bloß gut unterhalten, sondern
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