Die Bibel für Eilige
Traumhafte. Das Ungewöhnliche wird wie das Selbstverständliche erzählt und Gesetze von Raum und Zeit werden verlassen.
Vom
Mythos
unterscheidet sich die Sage dadurch, dass der Mythos Göttergeschichten als Abbild von Menschengeschichten erzählt, und insofern
ist ein monotheistischer Glaube für den Mythos wenig ertragreich, weil es eben keine |60| Göttergeschichten gibt, keine Geschichten, die Götter miteinander haben.
Es gibt einige Ausnahmen, wie z. B. in der Traumvision des Propheten Jesaja (Jesaja 6,1ff.).
Wenn wir solche Geschichten in Form von Geschichtserzählungen lesen, kommen wir immer wieder auf die Frage, was wahr ist.
Ist nur wahr, was wirklich war? Was war wirklich? Und ist wahr, was über das aufgeschrieben wurde, was war? Zugleich kommt
die Frage: Wer schrieb aus welcher Perspektive was, wie, warum, für wen auf? Wo lag sein Interesse? Wo ist sein Standpunkt
– im doppelten Sinne: sein genereller Standpunkt und sein Beobachtungsstandpunkt? (Wie schwer es mit der Wahrheit ist, davon
können die Gerichte ein Lied singen, wenn sie Zeugenaussagen vergleichen.) Wie aber kommen wir zur Wahrheit einer ganzen Zeit
oder zur Wahrheit des Menschen als einer einzelnen Gestalt
und
als einem Exemplar der Gattung, in dem sich die Gattung wiederfindet, weil jeder Einzelne sich darin wiederfindet. Genau dies
versucht die Sage einzufangen.
Die
Sagen
kommen aus der mündlichen Tradition, werden abgewandelt und angereichert. Sie können überwuchert und zersetzt, ihrer ursprünglichen
Zielsetzung und ihrer Herkunft entfremdet werden. Sagen und Sagenmotive werden miteinander kombiniert. So finden wir
Orts -
und
Natur sa gen
, etwa über den Regenbogen (Genesis 9, 8ff.) oder den Brunnen von Beerseba (Genesis 26, 19).
Erlebnissagen
geben Träume, Geräusche, Visionen, innere Erfahrungen, außergewöhnliche Wahrnehmungen wieder.
Ahnen -
und
Stammessagen
sind Sagen über die Urväter, den Wüstenzug und die Landnahme.
Geschichtssagen
sind Berichte über Kriege, Verhandlungen, wie mit dem sagenhaften König Abimelech, und schließlich
Helden- und Führersagen
, z. B. die Sagen über Simson. Häufig haben sie auch eine
ätiologische Funktion
, z. B. eine auffällige Gesteinsform |61| führt zur Sage von der Versteinerung von Lots Weib; oder sie werden erzählt in einer
etymologischen
Absicht: Woher kommt das Wort Babel, das Wort Jahwe oder das Wort Mose?
Um es an letzterem zu verdeutlichen: Die Geburtsgeschichte des Mose wird in Exodus 2 erzählt im Zusammenhang mit dem Mord
an allen männlichen Neugeborenen in Israel, weil der Pharao Angst davor hatte, dass dieses hebräische Volk zu groß und zu
mächtig würde.
Das ausgesetzte Kind einer Hebräerin wird dann im Schilf beim Baden durch die Tochter des Pharao gefunden, weshalb es dann
in Exodus 2,10 heißt: »Und da das Kind groß war, brachte sie (also die hebräische Amme) es der Tochter des Pharaos, und es
ward ihr Sohn, und sie hieß ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.« Massah bedeutet hebräisch herausziehen,
mose – mosu heißt ägyptisch Sohn. Und so bedeutet Ra-mesu – verkürzt: Ramses – Sohn des Ra, also des Sonnengottes.
Mose aber ist kein Göttersohn, ebensowenig wie Israel seinen Ursprung von einem der orientalischen Götter herleitete. So deutet
sich Israel vom Ereignis her den Namen, »der aus dem Wasser Gezogene«, während er ägyptisch einfach nur Sohn heißt. Wie es
wirklich war, lässt sich nicht klären. Aber der Sinn, der Doppelsinn, ist klar.
In den Ur- und in den Vätergeschichten, also Genesis 1– 11 und Genesis 12–50 mit den Erzählkreisen von Abraham und Isaak,
Jakob und Esau und den Joseph-Ggeschichten, finden sich die Grundthemen menschlicher Existenz in einer verdichteten und verknappten,
die Fantasie anregenden Sprachform wieder. Sie finden ihre nachträglich eingeführte historische und theologische Klammer durch
eine genealogische Verbindung. Ursprünglich sind es unabhängig voneinander existierende Überlieferungstraditionen.
Der – wenn man so sagen will – theologische Kern findet |62| sich im so genannten »kleinen geschichtlichen Credo«, das zu den ältesten Überlieferungen gehört und in verschiedenen Variationen
immer wiederkehrt. Es ist das Urbekenntnis aller gläubigen Juden und verdeutlicht in einer eindrucksvollen Weise, dass wir
es mit einer Erinnerungskultur zu tun haben. Im Erinnerten findet sich der Erinnernde selbst wieder. Und so
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